Zensur und kulturelle Dynamik
Die Theaterzensur im 18. Jahrhundert findet im Spannungsfeld zwischen Liberalisierung und Kontrolle statt. Zensur von literarischem Kulturgut war seit dem Mittelalter kirchlich geprägt, und zwar mit dem angeblichen Ziel, Menschen vor Fehlinformation und moralischem Schaden zu schützen. Allerdings führt auch gut gemeinte Zensur fast immer zur ideologischen Manipulation. Katholiken kennen seit 1559 das Verzeichnis der verbotenen Bücher (in Fachkreisen als Index librorum prohibitorum oder Index Romanus bekannt); auch Theater wurde eifrig zensiert. Am Anfang der in diesem Buch behandelten Epoche ging die Zensurkompetenz von der Kirche auf den Staat über. Jüngere Forschung hat sich zwar ausgiebig mit Bücherzensur beschäftigt, aber Theatralzensur, so behauptet Eisendle, sei noch nie systematisch aufgearbeitet worden (4). Diese Forschungslücke ist mit vorliegendem Buch (2015 als Dissertation in Klagenfurt eingereicht) auf eine beeindruckende Weise wesentlich verkleinert worden. Wenn eine zeitgenössische Quelle Recht hat, hätte Theaterzensur vor der Buchzensur aufgearbeitet werden sollen, denn Bücher werden wenig gelesen, „ein Schauspieler aber sagt oft in einem halben Tage nahe bey tausend Bürgern des Staates mehr Unsittliches, als sie in zehn schaft verpönten Büchern nicht finden würden.“ (41)

In vier Hauptabstücken, die sich insgesamt mit der Jahresspanne 1740–1790 beschäftigen, wird deutlich, dass der Theatralzensor zum mächtigsten Mann im Wiener Theater avancieren konnte. Die Karrieren von vielen Theaterkünstlern hingen von seinen Bestimmungen ab, ebenso war der kulturelle Diskurs über Geschmack und Sitte in Wien und Umgebung ihm unterworfen. Er nahm erstaunliche Detailfragen wahr: Improvisation war auf der Bühne verboten, und auch jedes gedruckte Wort wurde auf die Waage gelegt, nicht einmal das Wort „Sünde“ sollte gesprochen werden, geschweige denn eine Sünde dargestellt. Generell sollte die christliche Religion gar nicht Gegenstand theatraler Darstellung sein (493). Große Aufregung entstand am Hof über eine Komödie, in der eine Witwe lächerlich gemacht wurde, denn zu der Zeit war Maria Theresia selbst Witwe. Der Untertitel des beanstandeten Stückes lautete: „Sind alle Witwen so?“.
Nach seiner Einleitung (3–24) widmet Eisendle das erste Kapitel der Formierung der Theatralzensur (27–177); im Mittelpunkt steht das Theatralzensur-Dekret von 1770, das als typisches Zeitdokument die Bühne als Sittenschule versteht.
Im nächsten Kapitel beleuchtet der Verfasser weitere Theaterinstruktionen (181–278), beginnend mit den Zensurrichtlinien von Franz Karl Hägelin, der über 30 Jahre lang Zensor in Wien war. Aus theologischer Sicht ist dieser Zensor besonders interessant, weil er aus Freiburg im Breisgau stammte und in Halle, dem Zentrum des Pietismus, studiert hatte. Er war ein überzeugter Vertreter der Aufklärung. Theater war für ihn moralische Instanz, und die Frage der Unterhaltung durchaus sekundär.
Das dritte Kapitel ist dem „kulturellen Stau“ am Ende der theresianischen Zeit gewidmet (281–370). Der Abschnitt beschäftigt sich unter anderem mit den verbotenen Schauspielen bis 1770; sie wurden damals in einem eignenen Wiener „Index“ verzeichnet (der vatikanische Index reichte wohl nicht aus!), der sich Catalogus librorum a commissione caes. reg. Aulica prohibitorum nannte, also ein Index des Wiener Hofes (321–329).
Darauf folgt das letzte Hauptstück über die Zensur unter Joseph II. (373–517). In seiner Regierungszeit wurde die Zensur toleranter und weniger an die Person eines allmächtigen Zensors gebunden; die Aufgabe ging bald an die Studienhofkommission (381). Es gab nun drei Klassifikationen, um auch Grenzfälle in einer Abstufung zuzulassen: toleratur, permittitur und transeat waren nun die Vermerke eines gnädigen Zensors. Allein die Gesuche um Zulassung sagen viel über die Theaterkultur der Zeit aus: Eisendles Forschung zeigt nicht nur was genehmigt wurde, sondern wo es gespielt wurde (von Baden nach Retz) und welche Art Unterhaltung geboten wurde: Schau- und Singspiele, Schattenspiele, Marionettenspiele, Feuerwerk, Maschinenkünste und Tiervorführungen sind nur ein Teil der aufgelisteten Gattungen (432).
Die Zusammenfassung (521–537) nimmt der Autor wörtlich wahr, indem er alle bisherigen Kapitel re-kapitu-liert. Ein wertvoller Apparat (571–588) schließt diese substantielle Monographie mit Bibliographie und Quellenverzeichnis ab. Auch circa 100 gedruckte Dramen des 18. Jahrhunderts werden aufgelistet. Ganze fünf Register kommen zum Schluss: Personen, Bühnenwerke, Drucke, ungedruckte Zensurschriften und Orte werden hier gründlich erfasst.
Das beinahe 600 Seiten starke Buch kann als ambitionierte Auseinandersetzung mit Theaterzensur in Wien während der Aufklärung gelten. Für die Kirchengeschichte ist das Thema relevant, weil die Zensurfrage Wertewandel, Sittlichkeitsvorstellungen und Moralvermittlung profiliert aufleuchten lässt und die religiöse Motivation einflussreicher Akteure dokumentiert.
P. Alkuin Schachenmayr OCist
Eisendle, Reinhard: Der einsame Zensor. Zur staatlichen Kontrolle des Theaters unter Maria Theresia und Joseph II., Hollitzer Verlag 2020, 588 Seiten, ISBN 978-3990125854 € 85,- (=Specula Spectacula 8)

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