Keineswegs bloßes Wünschen
Erste Früchte an literarischer Produktivität während der Corona-Krise sind inzwischen soweit gediehen, dass sie sich ernten lassen, so auch dieses Buch. Eigentlich hätte Jean-Claude Wolf, emeritierter Professor für Ethik und politische Philosophie an der Universität Fribourg, einen Vortrag für ein Symposium zum Thema Gebet vorbereitet, doch dann kam der Lockdown dazwischen. Aus dem Kolloquium entstand ein Büchlein mit 138 Seiten, das zu einem Parforceritt durch eine Gebetsphilosophie ansetzt. Die Kapitel sind etwas lose zusammengesetzt, wozu der konzipierte Vortragsstil wohl das Seinige beitrug.

Wolf beginnt mit Gedanken des dialogischen Religionsphilosophen Martin Buber, der für die philosophische Verächtlichmachung des Gebetsgeschehens den Amsterdamer Freigeist Spinoza im 17. Jahrhundert ausmacht. Dessen System lässt nur einen pantheistischen Gottesglauben zu. Bittgebete und Gebetserhörungen werden als naive Unberührtheit des menschlichen Geistes angesehen. Beten wird so beschämend und ein langweiliger Zeitvertreib. „Zum Gott Spinozas lässt sich nicht von Person zu Person beten.“ (21) Für das aufklärerische Gotteskonzept wird das Gebet zu einer Art Beschäftigungstherapie. „Gott wird entweder zur Wunscherfüllungs-Maschine, oder zum manipulierbaren Geist, oder zum Mängelwesen, das die Wünsche der Menschen nicht im Voraus kennt und diese nicht besser beurteilen kann als die Menschen und auf Lob und Dank angewiesen bleibt.“ (37) Der Mensch will über Gott bestimmen.
Gegen solche Auffassungen wenden sich im 19. Jahrhundert einsame Rufer wie der Däne Sören Kierkegaard oder der liberale Katholik Franz von Baader. Baader, dessen Philosophie schon zu Lebzeiten in Verruf gekommen war, esoterische Lehren zu verbreiten (von Wolf als „Rezeptionsverlierer“ und „vergessenen Denker“ [60] benannt), ist wohl eine der spannendsten religionsphilosophischen Entdeckungen, die der Leser in diesem Band machen kann. Am Anfang der Baader’schen Philosophie steht nämlich nicht der Zweifel, sondern die Erkenntnis, dass der Mensch zuallererst geliebt ist. Die von der philosophischen Aufklärung propagierte Autonomie des Menschen bleibt selbst zweifelhaft, weil die Menschen nach Baader „nur frei durch Unterwerfung unter Gottes Willen“ (54) sind. Erst im Gehorsam kann der Mensch staunen über Gottes Macht und seine Knie zur Anbetung des Höchsten beugen. Baader wurde von dem Schuster Jacob Böhme beeinflusst, dessen eigenwillige Mystik und deren philosophische Rezeption eigens dargestellt wird (73-82).
Der oft festzustellende Widerwille, sich wirklich dem Gebet zu öffnen, mag nicht selten die Folge von Lebensermüdung und -überdruss sein. Je mehr materiellen Reichtum der Mensch anhäuft, umso stärker wird ihm die Langeweile, der bohrende Schmerz des Daseins bewusst. Selbst die Kirche hütet sich davor, in streng ritualisierten Gottesdienstformen Langeweile aufkommen zu lassen. Jürgen Habermas’ Beschäftigung mit Kierkegaard in seiner 2019 erschienen Spätschrift „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (Suhrkamp) wird von Wolf „halbiert“ genannt, weil Gebet eben nicht gleichberechtigte „Konversation“ (109) darstellt und hier die Theorie des kommunikativen Handelns nicht mehr greift. Es „fehlt der denkende Kierkegaard, der die Bibel betend liest.“ (106f, kursiv im Orig.) Gott kann durch nichts ersetzt werden, Beten ist kein demokratisches Handeln.
Wolf schließt mit Meditationen aus dem „Cherubinischen Wandersmann“ des Angelus Silesius. Gebetsnot und Gottestrunkenheit verstummen vor dem Heiligen. Wolf rät: „Niemand braucht sich zu schämen, wenn er im gesprochenen Gebet versagt, sofern er das innere Gebet versteht. Vor dem Ewigen zählt nicht die Wortwahl.“ (120)
Alexander Ertl
Wolf, Jean-Claude: Philosophie des Gebets. Gebetsscham und Langeweile in der Moderne, Aschendorff Verlag 2020, 138 Seiten, € 19,80 ISBN: 978-3-4020-12241-9 (=Studia oecumenica Friburgensia 95)

