Sympathische Facetten eines Dramatikers
Ulrich Weber, Literaturwissenschaftler und Kurator des Dürrenmatt-Nachlasses im Schweizer Literaturarchiv, legt eine 750 Seiten starke umfassende Biographie Friedrich Dürrenmatts vor, der am 5. Januar 2021 100 Jahre alt geworden wäre.

Seine Theaterstücke „Der Besuch der alten Dame“ (mit diesem Stück gelang ihm 1956 der Durchbruch als Dramatiker) oder „Die Physiker“ sind Standard-Schullektüre. Ebenso haben seine Kriminalromane „Das Versprechen“ (zunächst bekannt als Filmskript: „Es geschah am helllichten Tag“ mit Heinz Rühmann und Gert Fröbe, 1958; zahlreiche Neuverfimungen) und „Der Verdacht“ bleibende Berühmtheit ernannt. Friedrich Dürrenmatt war darüber hinaus ein mehr als nur durchschnittlich begabter Maler. Seine Popularität verwundert etwas, vertritt er doch in seinem umfangreichen Schrifttum alles andere als eine systemstabilisierende, nämlich eine illusionslose, absurde, anarchisch-konservative Sicht auf die Welt, ironisiert die bestehenden Ordnungen, rechnet mit Ideologien und Ideologemen jeder Couleur ab, reinszeniert eigene prägende traumatische Kindheitserfahrungen. Justiz als Gerechtigkeit und als Instituion sind reine Floskeln, reine Fassade, korrumpierbar und korrupt. Fortschritt, Weltverbesserung, Höherentwicklung können für Dürrenmatt nur liberale Selbsttäuschung sein.
So hat Dürrenmatt auch nie bestritten, dass er vor allem schrieb, um Geld zu verdienen, als Broterwerb, nicht um der Ewigkeit willen. Er schrieb vor allem für sich selbst; Eindrucksmanagement war seine Sache nie. Das unterschied ihn (wohltuend?) von seinen Antipoden Max Frisch, der sehr auf Außenwirkung bedacht war, und Bertolt Brecht, mit dem er einmal zusammenkam und sich über die Qualität von Zigarren unterhielt. Das Gespräch brachte zutage: Brecht behauptete, Dürrenmatt wusste.
Wüst, zerstörerisch, brutal, absurd, ins Phantastisch-Kosmologische gesteigert geht es in Dürrenmatts „Durcheinandertal“ – so der Titel seines letzten zu Lebzeiten erschienenen Romans, der eine theologische Burleske ist -, in seinen labyrinthischen Weltentwürfen zu, die nicht von ungefähr durch die exakten Wissenschaften in materialistischer Grundierung, durch Astronomie, Kosmologie, Physik, und ihre strengen Abläufe gekennzeichnet sind. Die unerlöste Grausamkeit des dürrenmattschen Weltbildes speist sich aus der allmählichen Verdunstung des pietistischen Gottesglaubens seines Vaters, der protestantischer Pfarrer im Emmental war. Anfangs sowohl von der Existenzphilosophie Kierkegaards als auch von den Schweizer Theologen Karl Barth und Hans Urs von Balthasar beeinflusst, driftete Dürrenmatt immer mehr in den Atheismus ab. Religion ist in seinen Werken immer präsent, jedoch jenseits einer begrifflichen Erfassung, immer in Zweifel gezogen, nie letzte Antworten und Gewissheiten gewährend.
Mit dieser Verweigerung gegen jeden Fortschrittsglauben setzte er sich in einen starken Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Max Frisch, der elf Jahre älter als Dürrenmatt war und sich immer mit ihm um den Rang des bedeutendsten Schriftstellers der Nachkriegszeit stritt.
Weber gelingt es, sämtliche Facetten eines sympathischen, vielseitigen, philosophisch interessierten und gebildeten Menschen nachzuzeichnen, der von Krankheiten gezeichnet, gleichzeitig aber ein Genießer war, zudem ein liebender Ehemann (er war zweimal verheiratet; nach dem Tod seiner ersten Frau Lotti 1983 heiratete er Charlotte Kerr) und Vater. Weber macht Appetit auf einen Solitär des 20. Jahrhunderts, den Entwerfer eines absurden Welttheaters, der seine eigenen Entwürfe auf genialische Weise in Zweifel zu ziehen wusste.
Eugenius Lersch: Rezensionsnotiz zum Beitrag von Gerhild Heyder in der Tagespost vom 24. Dezember 2020.
Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biografie, Diogenes Verlag 2020, 752 Seiten, € 28,- ISBN: 978-3257071009

