Ungemein-befreiende Wahrheit
Die orthodoxe Spiritualität lebt aus der Mystik, vom übernatürlichen Staunen und der Sehnsucht nach innigster Vereinigung mit Gott. Allen religiösen Handlungen voran sind die kirchlichen Sakramente als wirkmächtiges Realsymbol dem Menschen von Gott geschenkt worden, um jenen Bund wiederherzustellen, der durch die Sünde grausam zerstört wurde: die Einheit mit Gott und den Menschen. Gott ist der unumstößliche Garant des Bundes, er kommt nicht in der Hitze seines Zornes zu uns, denn er ist Gott und kein Mensch (Hos 11,9). Seine väterliche Gnade ist der nie verlöschende Urquell, Jesus Christus der ewige Kristallisationspunkt von Gottes Heilswillen. Im Sakrament der Beichte erfährt der Christ die mystische Anwesenheit Christi, seine heilende Gegenwart, die befreiende Zusage, dass die Sünden vergeben sind.

Die vorliegende Aufsatzsammlung macht es sich zur Aufgabe, das orthodoxe, altkirchliche Mysterium der Beichte in acht Traktaten tiefer zu durchdringen. Dabei betonen orthodoxe Priester, Erzpriester und Archimandriten mit gewichtigen Worten die Heilsrelevanz des „vergessenen Sakramentes“ (im katholischen Glaubensleben). Immerhin ist die Sündenvergebung Jesu Ostergeschenk an seine Jünger, somit Teilhabe an der Auferstehung und dem ewigen Leben, der Frucht des Kreuzes Christi. Die ersten drei Abschnitte charakterisieren diese Publikation als Praxisbuch, als Hin- und Einführung zum Leben aus der sakramentalen Kraft; wie man sich auf die (erste) Beichte (seit längerer Zeit) vorbereitet, wie das schlummernde Gewissen wieder zum Leben erweckt wird, das durch die Todsünde oftmals vergiftet und taub geworden ist. Mit dem vorchristlichen Komödiendichter Terenz könnte der Beichtspiegel mit dem geflügelten Wort: „Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches, denk ich, ist mir fremd“ umschrieben werden. Er nimmt sich kein Blatt vor den Mund und gerade darin liegt seine lebensbejahende Realität. Des Menschen Herz zu erforschen, seine geheimen Kammern zu durchschreiten, befreit das Leben vom Ballast der Sünde. Des Menschen Herz aber zu verändern, dies vermag man nicht zu befehlen, dazu muss der Mensch Gott wirken lassen (27). Umkehr, Buße, Nachdenken, auf griechisch metanoia, ist der Weg zum barmherzigen Vater. Wenn der Mensch ein „neues Denken“ pflegt, wird er auch die eigenen Gedanken in einem neuen Licht erstrahlen lassen, im Licht, das von Gott ausgeht. Jener Aufruf steht darum zu Beginn des öffentlichen Wirkens Christi (Mk 1,15), weil er die alles entscheidende Veränderung des Bewusstseins und des Wandels des Lebens hervorruft, auf dem allein die Botschaft vom Reich Gottes keimen kann.
Die mittleren Abschnitte fragen nach der Möglichkeit, wie gegen die Sünde angegangen werden kann, sie geben Hilfestellung und Anregung zum Beichten, selbst in jenen Momenten, die uns sagen, wir seien vor Gott makellos. Dazu führt ein georgischer Priestermönch die „aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers“ an, dessen Duktus den verwöhnten Ohren westlicher Leser ungewohnt erscheinen mag. Ein anderer Priester, der Missionsreferent der Diözese Moskau, erörtert in seinem Beitrag 31 Auswüchse des Stolzes, dem „Befehlshaber und Urquell aller sündigen Leidenschaften“, die dem wichtigsten Ziel des Christentums, der Besserung des Menschen, im Wege stehen.
Im letzten Teil kommen östliche Geistträger selbst zu Wort. Mit für Lateiner unbekannten Heiligen, etwa Nilus dem Älteren (+430) oder Johannes von Kronstadt (+1909), wird die patristische Theologie lebendig, mitunter durch Einbeziehung ungemein-befreiender Wahrheiten. Jedoch schießen manche Gedanken über das Ziel hinaus (105). Das Ziel aller Umkehr erschöpft sich nicht im bloßen Seelenfrieden, im von Stürmen beruhigten Gewissen, sondern führt hin zur Teilnahme am eucharistischen Leib Christi, zum „Hauptmysterium der Kirche“ (121). Überlieferte noch der hl. Basilius (+379), dass seine Christen vier mal pro Woche die Kommunion empfingen, pflegten die Christen zur Zeit des Johannes Chrysostomus (+407) bloß zwei Mal im Jahr zum Mahl des Lammes zu schreiten. Eine orthodoxe Tradition, die bis heute lebendig ist und von der heiligen Ehrfurcht Zeugnis gibt, den Leib Christi vor Entehrung zu schützen, ihn nur mit reinem Herzen zu empfangen: ganz im Gegensatz zur lateinischen Traditionswerdung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Orthodoxerseits versucht ein transkribiertes Dokument der russisch-orthodoxen Bischofsversammlung aus dem Jahr 2015 neue Akzente zu setzten. Zitate der Heiligen und ein Beichtablauf im orthodoxen Verständnis bilden den Abschluss.
In jüngster Vergangenheit verdichten sich orientalophile Veröffentlichungen, auch auf christlichem Sektor. Die Publikationslandschaft erfährt dadurch eine innere Bereicherung und vertiefte Rückbesinnung auf spirituelle Grundsätze, deren Wahrheitsgehalt durch den zeitbedingten Säkularismus und der offenen Ablehnung des Christentums zu entschwinden drohen. Inhaltlich bzw. sprachlich müsste besonders der Zusammenhang zwischen Erwachsenentaufe und Beichte dogmatisch konkretisiert werden: In welchem Rahmen wird bei orthodoxen Erwachsenentaufen vor (sic!) der Taufe erstmalig sakramental gebeichtet (9)? Stünde dies nicht dem Nicäno-Konstantinopolitanum entgegen (Ὁμολογοῦμεν ἓν βάπτισμα εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν)? Lothar Heisers Einführungswerk in die orthodoxe Tauftradition gibt dazu geschichtlich keine Auskunft. Jedoch beinhaltet das Photizomenat die Abwendung von der Vergangenheit. Kyrill von Jerusalems Katechesen legen zudem Absageriten für die Apotaxis nahe, die einem Sündenbekenntnis, der Aufkündigung des alten Lebens, gleichen könnte. Konkretisierend hält die Liturgie damit fest, dass Taufe kein passiv-magischer Vorgang ist, sondern auch aktives menschliches Handeln erfordert (Umkehr).
Florian Mayrhofer
Veselov, Alexej (auch Hrsg.); u.a.: Das Mysterium der Beichte in der Orthodoxen Kirche. Edition Hagia Sophia 2016, 154 Seiten, € 15,- ISBN: 9783937129471

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