Theologie als Lebens-Wissenschaft
Zum 100. Geburtstag des Matthias Grünewald Verlages erschienen, entspringt das vorliegende Buch der zündenden Idee „einen Beitrag zu leisten für eine inspirierende, menschendienliche, mutige und vorwärtsweidende Theologie, die die Herausforderungen in Gesellschaft und Kirche annimmt und kreative neue Ansätze entwickelt.“ (10) In 19 Essays werden die unterschiedlichsten und drängendsten Fragen pointiert herausgestellt. Im ersten Teil wird die Frage nach der Zukunft der Theologie allgemein beleuchtet. Der zweite Teil umfasst konkrete Herausforderungen, denen sich die Theologie stellen muss, und im dritten Teil wird exemplarisch der missionarische Aufbruch in der Weltkirche in den Blick genommen. Dabei ist es nicht leicht, die theologische Frage der Zukunft zu beantworten, wenn man ernsthaft darüber nachdenkt: „Denn, so wie es aussieht, ist die Hölle leer, und nicht wenige genießen den Himmel anscheinend schon auf Erden.“ (15)

Ein erster selbstkritischer Blick ist auf die Vielfalt des Forschens gerichtet, die zwar eine Spezialisierung ermöglicht, aber die Gefahr der Unübersichtlichkeit birgt und damit zur Bildung einer unverständlichen und damit belanglosen Expertensprache führt. Die Menschen, die sich für Feinheiten interessieren, wie die apostolische Sukzession, würden weniger als ein Prozent ausmachen, wird schon zu Beginn festgehalten. Welche theologischen Fragen könnten also zukunftsweisend sein? Im Mittelpunkt steht die Gottesfrage. Zeitgemäßes und Unzeitgemäßes muss in der Rede von Gott ausfindig gemacht werden. Das bloße Richtigstellen falscher Gottesbilder hilft hier nicht weiter. Auch die Analyse des Zeitgeistes allein ist nicht die Lösung. Wenn Gott eine Bedeutung hat für uns Menschen und für unser Leben und Sterben, dann ist es möglich, die Resonanz des Glaubens in den unterschiedlichsten Lebenssituationen zu erkennen. Es kommt darauf an, die eigene Sendung ernst zu nehmen und den „Grund der Hoffnung“ (1 Petr 3,15) zu bezeugen. „Und darin die Erfahrung machen, dass wir nicht über Gott verfügen (können), sondern er – nicht über uns verfügt, sondern – sich uns schenkt, gelegentlich auch zu-mutet.“ (23) Vor allem bedarf der Mensch in der heillosen Fortsetzung des Tunmüssens einer gnadenhaften Unterbrechung. Vom Tun wird der Mensch nicht dispensiert, aber von dessen Tyrannei. Mit den eigenen Erfahrungen dazwischenkommen zu dürfen und Widersprüche zuzulassen, sei wichtig, um Theologie nicht auf Erklärbares zu beschränken. So lautet eine der wichtigen Thesen des Buches: „Unterbrechen-Dürfen heißt Teilnehmen-Dürfen.“ (29)
Martin Kirschner spitzt die Forderung zur Teilnahme in der Suche nach einer „Theologie, die fehlt“ (58) zu. Was sie neu erlangen muss, ist ihre Sprach- und Auskunftsfähigkeit. Auch Veronika Hoffmann erkennt die Problematik, dass es nicht um die grundsätzliche Bereitschaft geht, die Wirklichkeit Gottes anzunehmen, sondern um das Fehlen denkerischer Kategorien, sodass Gott bestritten werden muss, weil er nicht verortet werden kann. Andere „weisen ihm einen Sonderbereich zu, für den die üblichen Regeln der Plausibilität und des Plausibilisieren nicht gelten sollen. Und es gibt mindestens noch einen dritten Schein-Ausweg aus dem Dilemma: Man kann den Unterschied zwischen Gottesbild und Gotteswirklichkeit einziehen.“ (69) Ob es Gott gibt oder nicht, ist dann nicht entscheidend, sondern nur, ob er für mich hilfreich ist. Zu klären ist deswegen, von welcher Wirklichkeit eigentlich gesprochen wird, wenn von Gott die Rede ist.
Auch die Frage nach dem Menschen bildet einen Kernaspekt des Buches. Der Mensch wird mithilfe von Technik und Wirtschaft zum Herrscher über Leben und Tod. Abgesehen von der dadurch bedrohten Humanität wirkt sich diese soziale und kulturelle Umgestaltung auch auf das religiöse Leben aus. Die stärkere existentielle Aneignung des Glaubens ist Herausforderung und Chance zugleich. Christliche Theologie lebt somit einerseits in der Annahme des Fremden und im Aufgreifen der Zeichen des Heils in gesellschaftlichen Kontexten und anderen Religionen. Andererseits soll Kirche selbst ein Zeichen des Heils sein. „Die jüngere Generation von Theologinnen und Theologen heute hat die Aufgabe, zu einer unserer Zeit entsprechenden Glaubensreflexion zu finden, vor dem Hintergrund eines lebendigen Gedächtnisses dieser Wege, und gleichzeitig erwächst ihr Arbeiten im Bewusstsein, dass das Konzil und die nachkonziliaren kontextuellen Theologien in gewissen Aspekten ‚überholt‘ sind.“ (145) Die Ermutigung, neue Wege zu wagen, wird aus unterschiedlichen Ansichten betrachtet und bildet den roten Faden der einzelnen Beiträge.
Die Artikel bieten jeweils eine ganz persönliche Sichtweise und geben dem Lesenden die Möglichkeit, die aussagekräftigen Gedanken in der fachwissenschaftlichen Diskussion als auch im eigenen Leben zu ihrer Entfaltung kommen zu lassen. Was bedeutet es, die „theologische Treue zum Realen“ in einer digitalisierten Kultur zu wahren? „Interne Religionskritik“ und „externe Apologetik“ zu üben? Auf „polarisierende Grenzziehungen“ zu verzichten und feste Grenzen durchlässig zu denken? Worin besteht die Aufgabe der Theologie angesichts der nahenden Klimakatastrophe und dem Kollaps von Ökosystemen? Hat die „metaphysische Obdachlosigkeit“ das letzte Wort? In diesem Buch werden nicht nur viele Fragen aufgeworfen. Es gibt auch eine klare Botschaft: Eine inkarnierte und lebendige Theologie führt den Menschen zu seiner Mündigkeit und Lebensfülle.
Michaela Starosciak
Sühns, Volker (Hg.): Die entscheidenden Fragen der Zukunft. Theologinnen und Theologen nehmen Stellung, Essays anlässlich 100 Jahren Matthias Grünewald Verlag, Matthias-Grünewald 2019, 152 Seiten, € 19,- ISBN: 9783786731610

