Tiefgründige Alternativhistorie
Absurd, glaubhaft, wohldurchdacht und höchstkomisch-bizarr repariert Hannes Stein in seinem Debütroman von 2014 die Weltgeschichte; mit einem religiösen Fragezeichen am Ende der Geschichte. Die Worte des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand: „I bin doch net deppat, i fohr wieder z’haus“ fegen nicht nur das Mordkomplott der „Schwarzen Hand“ aus den Büchern der Geschichte, sondern auch den Ersten Weltkrieg samt folgenden Zusammenbruch der Zivilisation. In Europa herrscht Frieden, Wien ist und bleibt der Nabel der Welt, Amerika ein riesiges Land voller Cowboys und Hinterwäldler, die jüdische Religion Teil der europäischen Realkultur. Im Zentrum der Hauptstadt des k.u.k. Vielvölkerreichs lässt Hannes Stein seinen jungen Protagonisten Alexej auftreten, einen heruntergekommenen, aber feinsinnigen Studenten russischer Adelsprovenienz, der sich in eine gereifte Salondame verliebt.

Steins Szenario der Alternate-History zeichnet sich durch eine wohldosierte Prise „Wiener Schmäh“ aus. In vielen Konstellationen begegnen dem Leser historische Fakten, die es neu einzuordnen gilt. So ist etwa Peenemünde keineswegs für seine Vergeltungswaffen bekannt, sondern Stützpunkt ziviler Raumfahrt; sind die reichen Bestände der Nationalbibliothek von Bosnien und Herzegowina Teilaspekt einer Zeitungsreportage; ist der kakanische Almdudler auch jenseits der Alpen auf allen sechs Kontinenten heiß begehrt. Jedoch: „Obwohl er Süßem ansonsten sehr zugetan war, verabscheute er dieses Gesöff: Almdudler schmeckte wie etwas, das eine greise Kräuterhexe unter hämischem Kichern in ihrem rostigen Kessel zusammengerührt hatte.“
Zwischen Knize, Praterkino, Riesenrad und Stephansdom versammeln sich drei Hofräte im Café Central zum Subtext der Handlung: Ein gläubiger Katholik, ein frommer Jude und ein agnostischer Psychiater diskutieren angeregt über das „Thanatos-Prinzip“: ein Artikel, der die psychologischen Abgründe eines Weltuntergangträumers aufbricht. Weltkrieg, Deportationen und Vernichtungslager müssen in der friedlichen Harmonie Kakaniens jedoch als Kakophonie zurückgewiesen werden. Sie bleiben in Steins Erzählung Utopie, ein Traum. Aus welcher tellurischen Schicht mögen sie entspringen? Seit dem „heiligen Bad im Namen der heiligen Menschenrechte“, dem innerfranzösischen Genozid im Département Vendée, war Europa von größeren Verbrechen verschont geblieben. Die Weltgeschichte macht um Auschwitz einen weiten Bogen, der galizische Ort bleibt ein unbedeutender Bahnknotenpunkt im Hinterland der Donaumonarchie, wenngleich vom Himmel her Unheil droht.
Stein forciert beileibe keinen Harmoniekitsch, keine Verklärung des Habsburgerreiches, sondern unterhält den Leser mit einer Sprachatmosphäre von Ästhetik und Bedeutung, die immer wieder von Austriazismen oder unkonventionellen termini technici („Klapprechner“, „Düsenzug“, „Elektropost“) aufgelockert wird. Offen bleibt, ob Stein mit der Rezitation des lateinischen Stufengebets im Stephansdom auch die Existenz der Liturgiereform negiert, warum sich der drohende Komet des Schicksals im kosmischen Feuerwerk islamischer Gebete der Erde nähert. Der religiös konnotierte Roman endet mit der Sentenz: „Gott ist größer. Er ist immer größer. Größer als unsere Träume und Albträume, größer als unser Kummer; größer als alles Schlimme, das Menschen einander antun. Größer als jeder Weltuntergang. Größer als alle Geschichten, die wir uns je ausdenken können.“
Florian Mayrhofer
Stein, Hannes: Der Komet. Roman, Kiepenheuer & Witsch 2014, 270 Seiten, € 8,99 ISBN: 9783462046281

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