Verfolgung und gegenseitige Hilfe

Die Geschichte des jüdischen Volkes ist eng mit dem geistigen Schicksal Europas verbunden. Allein der Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs offenbart die Abgründe des Willens, den Triumph des Grauens. Der renommierte Historiker Jacques Sémelin schreibt mit der vorliegenden Forschungsarbeit ein neues Blatt Rezeptionsgeschichte der Shoah. Mit seiner These des „zivilen Rettungswiderstandes“ sorgte Sémelin für Aufsehen. Nicht Flucht, sondern die vielfältige Hilfe nichtjüdischer französischer Zivilbevölkerung verhalf dazu, dass trotz deutscher Besatzung drei von vier Juden in Frankreich den Holocaust überlebten. In Zahlen: mehr als 200.000 Juden überlebten eine vierjährige Verfolgungszeit im militärisch eroberten Frankreich Nazi-Deutschlands, der höchste Anteil in allen besetzten Gebieten. Vier Jahre vor der französischen Erstveröffentlichung versuchte Quentin Tarantino das Schicksal der Dreyfus’ens cinematographisch zu bearbeiten und lieferte einen Kassenschlager, der jedoch dazu verleitet, die blutrünstigen Zustände auf alle Teile der Grande Nation unterschiedslos zu übertragen. Der Waffenstillstand von Compiègne (1940) teilte Frankreich jedoch bis zur vollständigen militärischen Besetzung Ende 1942 in zwei ungleiche Teile: eine besetzte Nordzone (60%) sowie eine südliche „Zone libre“ (40%), des Vichy-Regimes. Philippe Pétain regierte den Wurmfortsatz der Dritten Republik als autoritärer Staatschef, kollaborierte mit dem Deutschen Reich und etablierte einen Staatsantisemitismus. Sémelin betreibt primär eine „Geschichte von unten“. Mit vielfältigem Archivmaterial, Fachliteratur und Zeitzeugeninterviews transportiert der Autor zivile Widerstände, die sich auch im Protest und Widerstand der Kirche (eigener Abschnitt am Ende der Rezension) manifestierten; dazu den antideutschen Patriotismus ebenso wie Gesten der Mitmenschlichkeit. Desgleichen illustriert das Buch Ressentiments und Antisemitismus in den Reihen der Bevölkerung.

Der erste Teil (25-113) analysiert die räumliche Verteilung der jüdischen Bevölkerung Kontintalfrankreichs. Mit dem Begriff „israelitische Franzosen/jüdische Franzosen“ wird versucht , in die heterogene Zusammensetzung der jüdischen Bevölkerung einzuführen, waren doch die Jahre 1791-1871 von anhaltenden jüdischen Einwanderungswellen geprägt. Frankreich galt als liberaler, aufgeklärter Staat, als „wichtigstes Asylland“ vor dem Zweiten Weltkrieg (45). Ab 1900 setzte eine zweite Immigrationsphase ein. Somit lebten neben den 200.000 integrierten und zum Großteil assimilierten jüdischen Franzosen weitere 200.000 Juden ausländischer Staatsangehörigkeit. Mit dem blitzartigen Frankreichfeldzug setzten sich besonders im Norden Frankreichs endlose Evakuierungsströme gen Süden in Gang. 8 Millionen Menschen (65) waren bis Ende Juni 1940 auf den Straßen, darunter viele Juden, mit der freien Zone als Ziel. Bis zur „Endlösung“ fungierte dieser Bereich als tolerierter „Abladeplatz“ (70) für alle Unerwünschten. Trotz des Vichy-Antisemismus (Judenstatut I und II) (75) war die Zeit bis Ende des 1942 von „relativer“ Normalität (105) geprägt, zumal auch die Besatzungstruppen Mussolinis keine Auslieferungen forcierten (88). Die erste Phase der Verdrängung sollte in den massenhaften Deportationen ab 1942 enden.

Der zweite Abschnitt (115-173) hinterfragt, wie der Einzelne angesichts der Verfolgung überleben konnte. Mehr noch als die ethnische und religiöse Zugehörigkeit entied die Nationalität den Grad der Verwurzelung im sozialen Gefüge. Mitunter wurden geflohene Juden aus dem Elsass als „boche“ diffamiert. Grundsätzlich litten die armen und auch sprachlich isolierten jüdischen Immigranten an einer viel präkereren Situation als die israelitischen Franzosen (115). Neben dem kriegsbedingten Arbeitskräftemangel konnten Kollaborationen, die Aufnahme in jüdische Verwaltungsorganisationen oder rudimentäre Rechtsmittel das Überleben verlängern. Nur eine verschwindend geringe Zahl wird den „Aufruf zur Gesetzestreue“ des französischen Oberrabiner Schwartz (121-122) verinnerlicht, noch weniger durch ihre Zugehörigkeit zu „geschützten“ Nationalitäten oder mittels Konversion (128) Rechtsmittelverfahren eingeleitet haben. Das Judenstatut II vom 3. Juni 1941 verpflichtete alle Juden in der unbesetzten Zone zur Registration, setzte eine Inhaftierung sowie Konzentrierung und damit eine grassierende Verelendung in Gang (165).

Die Zeit nach der Wannseekonferenz und den logistischen Koordinierungen zur Deportation der jüdischen Bevölkerung in den Osten widmet sich das dritte Kapitel (175-238). Die Einführung des gelben Sternes in der Südzone am 27. Juni 1942 initiierte neuerliche Fluchtbewegungen in die ländlichen Gebiete, in das Herz eines katholisch geprägten Milieus (217). Sich an das bäuerlich Leben anzupassen bedeutete für Intellektuelle und künsterlisch-musisch Begabte eine zusätzliche Herausforderung, von der Beschaffung falscher Papiere oder einer sicheren Unterkunft ganz zu schweigen. Leider liefert die Forschung keine verlässlichen Zahlen zu Konversionen und Scheintaufen. Ohnehin erwies sich dieser Modus unmittelbar vor der Deportation als wenig hilfreich, jedoch standen die vor polizeilicher Inquisition verschonten katholischen Institute für Kinder danach offen. Für das nationalsozialistisch besetzte Europa einzigartig ist die Aufnahme jüdischer Kinder, auch der ausländischen, in den öffentlichen Schulen Frankreichs (und Dänemarks) (220). Zudem sollte während der gesamten Okkupation der synagogale Gottesdienst in beiden Zonen aktiv aufrechterhalten werden. Im besetzten Paris hielten fünf Rabbiner die Liturgien ab, mit ständiger Gefahr von rafels, von Razzien und Deportationen (230).

Der vierte Abschnitt (239-316) zählt die spontanen Hilfeleistungen für die Verfolgten auf. Von Antisemitismus über Gleichgültigkeit bis zum Mitgefühl spannt sich dabei die emotionale Bandbreite. Erfolgten Denunziationen, spielten mitunter Eigeninteressen, auch im finanziellen Bereich, eine Rolle (257). Als jedoch zunehmend Frauen und Kinder in das Räderwerk der Verfolgung gerieten (Rafle du Vélodrome d’Hiver am 16./17. Juli 1942) kippte die öffentliche Gefühlslage. Nun war offensichtlich, der Transport endet in keinem Arbeitslager. Mehrere hohe Geistliche der katholischen Kirche griffen in Predigten das Entsetzen auf und avancierten zum Sprachrohr der Öffentlichkeit, allen voran der Hirtenbrief des Erzbischofs von Toulouse Jules Saliège mit dem brennenden Titel „Et clamor Jerusalem ascendit“ (254). Dem Vichy-Regime konstatiert Sémelin eine administrative Schizophrenie, weil es sowohl an Deportation organisatorisch mitschuldig wird, jedoch auch jüdische Pfadfinder finanziell unterstützt und ihnen somit Ausflüge (Flucht) aufs Land ermöglicht (269). Beschäftigte der staatlich organisierten Sozialarbeit in den Lagern (SSAE), der „Secours National“ sowie der Allgemeinen Union der Juden in Frankreich (UGIF) spielten ein doppeltes Spiel. Unter ihrem legalen Deckmantel unterstützten sie illegale Praktiken bzw. beteiligten sich daran, Juden zu schützen (274). Ohne tiefergehende Strukturen und Logistik halfen und „schützten Tausende Franzosen da und dort Juden, die sich versteckten und fliehen mussten“ (275). Darunter ragen Berufsgruppen mit bescheidenen Einkommen besonders heraus: Die Gedenkstätte Yad Vashem verlieh den Titel des/der Gerechten zu 65% an Arbeiter und Bauern, die meisten von ihnen aus der sogenannten „Schützengraben-Generation“ (Geburt vor 1900) und somit patriotisch stark anti-deutsch eingestellt. Mit dem Begriff der „sozialen Reaktivität“ (310) versucht der Autor das spontane Phänomen jener historischen Epoche zu qualifizieren.

Sémelins Studie thematisiert die Rolle der Kirche bzw. den christlichen Hintergrund der Hilfestellung primär im vierten Kapitel und abschließend im Fazit (324) jedoch ohne eigenständigen Abschnitt, wenn auch der Klappentext dies vorgeben könnte. Französisches Christentum verknüpft in der jüngste Historie häufig das republikanische Erbe und dessen Patriotismus (325-326). Sémelin betont den „säkularen Antijudaimus“ der katholischen Kirche, der die Einstellung ländlicher Schichten „stärker prägte“ als die antisemitische Propaganda Vichys, sofern die katholische Erziehung eine „bösartige Vorstellung von Juden einimpfen konnte“ (246). Offen bleibt dabei, in welcher Form die Fluchtbewegungen ins katholische Hinterland (217) mit dieser Verallgemeinerung korrespondieren kann. Wolfgang Seibel unterstreicht in seiner 2010 vorgelegten Studie die moralische Macht der katholischen Kirche, die es ermöglichte, die Politik Vichys unter Druck zu setzen (19). Nechama Tecs Analyse über die „Gerechten“ registrierte einen deutlichen Anteil an christlichen Motiven (310), die Geste der „Gastfreundschaft“ wird zudem in der christlichen Kultur mit dem Begriff der Barmherzigkeit verbunden, der Aufnahme von Notleidenden oder Reisenden (296 bzw. 324). Wenngleich Tecs Studien stark humanistische Movitik beinhaltet, stellt sich doch die Frage, inwiefern „Landwirte“, immerhin 40,8% der „Gerechten“ (283), zwischen humanistischen und christlichen Idealen unterscheiden konnten, zumal diese Bevölkerungsgruppe wie angeführt (246) kaum auf intellektuelle Blätter zurückgriff, „außer wenn sie sich über landwirtschaftliche Preise“ informieren wollte. Das „Schweigen der katholischen Kirche verlangt, die tieferen Gründen dieser scheinbaren Gleichgültigkeit (313) zu erforschen. Seit Raul Hilbergers Forschung über den Genozid an den europäischen Juden identifizierte man den „passiven Zeugen“ (bystander) als jemanden, dessen Apathie für den Völkermord mitverantwortlich war. Jedoch ignoriert diese Studie all jene Situationen, in denen genau der selbe Zeuge, der am Straßenrand denebensteht „möglicherweise umgekehrt den Prozess der Verfolgung behinderte, sei es, dass er offen protestierte, sei es, dass er im Verborgenen handelte“. (316)

Glossar: Kirche, kirchliche Hilfeleistung:

S. 19, 177, 217, 246, 250, 252, 253, 254, 275, 276, 277, 278, 296, 299, 303, 306, 310, 313, 324, 329, 331, 332, 333

Florian Mayrhofer

Sémelin, Jacques: Das Überleben von Juden in Frankreich. 1940-1944, Wallstein Verlag 2018, 364 Seiten, € 34,90 ISBN: 9783835332980

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