
Theologie der himmlischen Liturgie
Rainer Schwindt ist Bibliker an der Universität Koblenz-Landau. Er legt mit seiner Monographie „Der Gesang der Engel“ eine exegetisch fundierte Untersuchung über die Verbindung der sichtbaren und der unsichtbaren Welt beim Lobe Gottes vor, der vordringlichen Aufgabe des Christen („Geheiligt werde dein Name.“). Der Autor unternimmt darüber hinaus Ausflüge in die systematische Theologie, in die Kirchengeschichte, die Kunst (19 Abbildungen) und Literatur. Diese unsichtbare Welt wird von himmlischen Wesen bevölkert, die sich um den Thron Gottes scharen, einen Thronrat bilden. Liturgisch wird dieser Umstand immer wieder evoziert und inszeniert – wenn nämlich die feierliche Präfation die Engel anruft und schließlich in den Anruf der Doxa Gottes mündet: „Sanctus, Sanctus, Sanctus Dominus Deus Sabaoth“. Diese Einsicht in einer Zeit, die stark von horizontalistischen Denkweisen geprägt ist, ebenso unaufgeregt wie akribisch und souverän-materialreich theologisch ausgewertet und aufbereitet zu haben, ist das Hauptverdienst dieser Arbeit.
Schwindt schlägt den Bogen von altorientalischen, kanaanäisch-syrischen Kontexten über das Alte Testament (besonders schön ist ihm die Schilderung der Jerusalemer Tempeltheologie und ihres kosmologischen Konzeptes gelungen) – die Psalmen werden ebenso detailliert untersucht wie die Qadosch-Vision in Jesaja 6,3. Die griechisch-römische Kulturwelt mit ihrer pythagoräisch-platonischen Vorstellung von der Sphärenharmonie (mitsamt ihrer Nachwirkung in das hellenistische Judentum, vgl. Philo von Alexandrien, bis in die Spätantike, vgl. Martianus Capella) wird ebensowenig vernachlässigt wie die Untersuchung apokalyptischer frühjüdischer Vorstellung. Schwindt kommt zu dem überzeugenden Schluss, dass die Fülle der den einen Gott umgebenden himmlischen Wesen mitnichten ein verkappter polytheistisch-paganer Reigen oder systematisierend-spekulative Grübelei ist, sondern Ausdruck der Fülle der göttlichen Schöpfung, die als Ganzes Gott preist. In nachexilischer Zeit seien zu dem Gedanken der Apokalypse der Messianitäts- und Jenseitsgedanke getreten, der dem hymnischen Lob Gottes noch einen anderen Akzent verliehen habe.

Sodann wendet sich Schwindt einer ausführlichen Untersuchung der neutestamentlichen Angelophanien zu, insbesondere dem von Lukas geschilderten Weihnachtsgeschehen (mit Blick auf die ebenfalls von Lukas geschilderte Steinigung des Stephanus), aber auch der Johannesapokalypse, wo das neue Lied angestimmt wird. Schwindt verzahnt die Erkenntnisse seiner Untersuchungen zum alttestamentlichen Befund mit den Textuntersuchungen zum Neuen Testament – er stellt plausibel die Doppelrolle der Engel als ewig lobpreisende Kultsänger (zyklisch) und Gesandte, Boten, Antreiber des eschatologischen Geschehens (linear) heraus.
Doch damit nicht genug: Schwindt weiß auch Erhellendes über die Bedeutung des Gesanges der Engel in der frühchristlichen Liturgie zu sagen, untersucht die liturgischen Gesänge des Sanctus, des Gloria und des Te Deum und unternimmt einen Ausflug in die Ostkirche. Anschließend unternimmt er auf knapp 50 Seiten den Versuch, die mittelalterliche Angelologie und Musiktheorie „von Dionysius bis Dante“ darzustellen. Auch wenn er viele Themen nur anreißt, ruft er überzeugend die Tatsache in Erinnerung, dass im Mittelalter himmlisches und irdisches Musizieren aufs engste miteinander verknüpft waren – wie auch ein Blick in die monastische Praxis des Chorgebetes zeigt.
Ganze hundert Seiten, den gesamten zweiten Teil seines Buches, widmet Schwindt schließlich systematisch-spekulativen Ansätzen des 20. und 21. Jahrhunderts. Nach einem geradezu hymnischen Lobpreis auf Dantes Commedia schwenkt Schwindt über in das Jahr 1934 – er lässt also die gesamte Neuzeit und Moderne unbeachtet (wiewohl er einzelne Bildwerke aus diesem langen Zeitraum in sein Buch aufnimmt). Erik Peterson, Karl Barth, Rainer Maria Rilke, aber auch neuere prozesstheologische und systemtheoretische Ansätze werden abgehandelt. Hier stellt sich ab und an die Frage, ob der Autor diesen Ansätzen, die weitgehend losgelöst von der Rückbindung an die klassische Metaphysik und die objektive substanzontologische Ordnung operieren, wirklich mit so großer Sympathie entgegensteht und sie so überzeugend findet, wie er behauptet. Hier wäre weniger vielleicht mehr gewesen. Insgesamt aber ist die Untersuchung vor allem wegen ihrer Materialfülle von bleibendem Wert.
Eugenius Lersch
Schwindt, Rainer: Der Gesang der Engel. Theologie und Kulturgeschichte des himmlischen Gottesdienstes, Herder 2018, 395 Seiten, € 42,- ISBN: 978-3451383120

