Panorama der Renaissance

Weil Christen glauben, dass Gott die Welt erschaffen hat, sie lenkt, zu einem konkreten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort Mensch geworden ist und den Menschen bis zum Ende der Zeiten nahe ist, kommt kein Theologe um die Beschäftigung mit der Geschichte herum, sei es die biblische Geschichte, sei es die Kirchengeschichte, seien es geistes- und philosophiegeschichtliche Daten und Reflexionen, seien es grundlegende Betrachtungen über Themenkomplexe wie Aufklärung, Moderne, Individualisierung, Säkularisation und deren Einfluss auf religiöses Denken und religiöse Praxis.

So verspricht Bernd Roecks Mammutwerk (über 1300 Seiten!) über die Renaissance viele erhellende Einsichten. Es steht in der Tradition massiver Gelehrsamkeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Arnold Hauser, Egon Friedell), wenn nicht gar des 19. Jahrhunderts. Es mag weder extrem konservativ noch extrem progressiv denkende Menschen ganz zufriedenzustellen. Im Grunde geht es von der Einheit und Linearität westlich-europäischen, geistesgeschichtlichen Denkens aus – in Zeiten post-postmoderner, postkolonialer Theoriebildung ein gelinde gesagt nicht unbedingt populäres Diktum. Der westliche Weg, der Weg der Moderne, ist für Roeck der überlegene Weg. Das kann ihm den Vorwurf sturer, voluntaristischer Teleologie, kultureller Arroganz und anachronistischer eurozentrischer Superioritäsphantasie einbringen. Eine Kritikerin dieser Richtung ist beispielsweise die Kunsthistorikerin Jeanette Kohl, die u. a. die Publikationen von Reinhard Koselleck, Alexander Nagel, Stephen Campbell, Ulrich Pfisterer und Georges Didi-Huberman ins Feld führt, um aufzuzeigen, daß der moderne Zeitstruktur- und Epochenbegriff in den letzten Jahren deutlich problematisiert worden ist. Aber auch für konservatives Denken ist in Roecks Buch wenig Raum: Fortschritt, Diskurs, Kritik, Streit, Dynamik, Austausch, Wandelbarkeit, Mobilität, Flexibilität, Emanzipation, Konkurrenz, Wettbewerb, Selbstverwaltung – dies sind die Epitheta, mit denen Roeck die Renaissance charakterisiert, alle präfiguriert und vorausgedeutet in der Antike (Stichwort Nestlé, „Vom Mythos zum Logos“) und im Mittelalter (Stichwort Panofsky, „Renaissance and Renascences“). Kirchliches Denken sei dagegen starr, modernisierungsfeindlich, das dicht Gebaute, fest Gefügte, das Bestehende, Überlieferte; die Folie, von der man sich absetzt (vor dem einen oder anderen inneren Auge taucht das Klischeebild eines orientalischen Gottesdienstes auf, in dem ein bärtiger, kräftiger, in goldstrotzende Gewänder gehüllter Priester Weihrauch schwingt und vor starren Ikonen in orientalischem Ton unverständliche, aber lange und blumig formulierte Gebete aufsagt – das Klischeebild vom Orient hat bereits in der 1970er Jahren Edward Said in seinen Studien zum Orientalismus entlarvt).

Vor diesem Hintergrund ist Roeck dennoch ein ideenreiches, faktengespicktes, eloquentes, mit unmodern langem epischem Atem (wie Thomas Mann sagen würde) ausgestattetes Buch gelungen, das viele Aspekte des westlichen Modernisierungsgeschehens beleuchtet. Bei allem Respekt vor der enormen Leistung Roecks ist es angeraten, das Buch kritisch zu lesen. Ist der westliche Weg, der Weg des Abendlandes (der Begriff taucht erstmals im Jahre 1529 bei einem reformatorischen Theologen auf) eine Erfolgsgeschichte? Eine Frage, die jeder theologisch Interessierte reflektieren sollte. Hingewiesen sei noch auf die schöne Bindung und die ansprechende Illustration.

Eugenius Lersch

Roeck, Bernd: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, C.H. Beck 2019, 1306 Seiten ISBN: 9783406741197 € 29,95

Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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