
Der Monotheismus als Mediengeschichte
Ein Leitmotiv der Geschichte des Christentums ist sein ambivalentes Verhältnis zu Schrift und Schriftlichkeit: Einerseits hält das Judentum die Freude am Gesetz des Moses hoch, es zelebriert sie und widmet einen eigenen Psalm (118), den längsten, in einem Akrostichon dieser Simchat Tora. „Vere tu es Deus absconditus – Deus Israel Salvator“ (Jes 45,15). Andererseits ist das Wort Fleisch geworden, ist Gott in sich Beziehung, Lebendigkeit, Austausch. Gott liebt sein Volk und begegnet ihm personal, er ruft Israel zusammen und will alles in Christus erneuern. „Unverkennbar seid ihr ein Brief Christi, ausgefertigt durch unseren Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln aus Stein, sondern – wie auf Tafeln – in Herzen von Fleisch. Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2 Kor 3,3.6). Verbum caro factum est (Joh 1, 18). Das Wort ist Resonanzraum, weitet sich, ist lebendig und schenkt Leben. Das Christentum ist eben keine reine Religion des Buches. Gerade die Katholiken beten die „latens deitas“ (Thomas von Aquin, Hymnus „Adoro te“) in der Hostie an – Gott hat sich sicht- und verletzbar gemacht unter der Gestalt von Brot. Dieses tägliche Brot, von dem das Vaterunser spricht, ist panis supersubstantialis (so übersetzt Hieronymus das Hapax „epiousios“), wahres Manna für die Wanderung.

Nordhofens Werk umkreist diese Gedanken. Es ist – um es im akademischen Jargon unserer Tage zu sagen – vor allem eins: anschlussfähig. Es knüpft an die bereits seit mehreren Jahrzehnten in den Geistes- und Kulturwissenschaften (fast möchte man sagen: bis zum Überdruss) mäandrierenden Diskurse um Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Medialität, Alterität, Körper und Differenz. Aber auch die von Odo Marquard und vor allem Jan Assmann angestoßene Debatte um Religion und Gewalt und insbesondere die Verknüpfung von Monotheismus und Intoleranz, Gewalt, Fundamentalismus wird mit diesem Buch um einen bereichernden Aspekt erweitert.
Nordhofen koppelt die Erfindung von Schrift und Schriftlichkeit an den Eingottglauben Israels und sieht gegenüber der Idolatrie der Polytheisten einen entscheidenden kulturellen Fortschritt, der mit dem Monotheismus verbunden ist: gerade die Schrift trage gegenüber der kultisch-platten, plakativ-aufdringlichen Präsenz eines Kultbildes die Möglichkeit der Distanz, des alteritären Glanzes, der hauchdünnen, assoziations- und konnotationsreichen, abstrakten Differenzierung in sich. Die Sprache, vor allem wenn sie als verobjektivierter Sinnzusammenhang verschriftlicht ist, e-voziert eine Bedeutung, aber sie enthält das Element des Unverfügbaren ebenso in sich. Gott ist anrufbar, verbirgt sich aber gleichzeitig.
Doch ebenso wie die Schrift eine kulturelle Höherentwicklung bedeutet und die geheimnisvolle Präsenz Gottes erfahrbar machen kann, kann sie sklerotisch verhärten: „Selig der Mann, der über das Gesetz nachsinnt bei Tag und bei Nacht“ (Ps 1,2) – dies ist auch gut pharisäisch. Pro-phetische Rede mahnt zur Umkehr, zur Verlebendigung des Gesetzes, zu mehr Inhalt und weniger Kunst. „Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten, in dieser Endzeit hat er gesprochen durch seinen Sohn“ (Hebr 1,1-2). Jesus Christus, die unüberbietbare Selbstaussage des Vaters, ist gekommen, um die Erstarrung, den Formalismus, das würgend enge, bürokratische, korsettierende, tötende Element der Grapholatrie zu sprengen, zu erfüllen: Er ist der Medienwechsel kat‘exochen, das gesprochene Wort des Vaters („Dominus dixit ad me: Filius meus es tu, ego hodie genui te“; Ps 2,7; Hebr 1,5; Introitus zur Heiligen Nacht), das fleischgewordene Wort – eben die Barmherzigkeit und die Liebe in Person, und nicht nur bzw. nicht mehr toter Buchstabe. Er sendet den Geist, der alles neu macht, in die Weite und Tiefe führt und bewahrt vor Enge, Fanatismus, Intoleranz und Gewalt. So spricht ein frühneuzeitlicher Hymnus vom Heiligsten Herzen Jesu als von der Bundeslade, die das Gesetz enthält – doch nicht das der alten Knechtschaft, sondern das Gesetz der Gnade, der Nachsicht und der Barmherzigkeit: „Cor arca legem continens / non servitutis veteris, / sed gratiae, sed veniae, / sed et misericordiae“.
Der Gedanken- und Assoziationsreichtum von Nordhofens Buch, seine Gelehrsamkeit, sein Witz, seine ganz und gar offene, intellektuell sensible Kombinationsgabe können kaum wiedergegeben werden. Ein Blick in das Literaturverzeichnis offenbart die Weite seines Geistes. Ein ebenso tieffrommes wie theologisch horizonterweiterndes Buch.
Eugenius Lersch
Nordhofen, Eckhard: Corpora. Die anarchische Kraft des Monotheismus, Herder 2018, 331 Seiten, € 34,- ISBN: 978-3451381461

