Noli me tangere

Jean-Luc Nancys Denken steht in der Tradition der Dekonstruktion und Phänomenologie. Auf Basis dieser Deutefolie analysiert der französische Philosoph die österliche Begegnung zwischen Maria von Magdala und dem Auferstandenen (Joh 20,11-18) und fokussiert diese Szenerie, die sonst abseits kanonischer Bilderzyklen ein paradoxes Schattendasein fristet. Im Zentrum des philologischen Essays steht das doppeldeutige Berührungsverbot Christi gegenüber Maria Magdalena in seiner ganzen Widersprüchlichkeit. Wenngleich die christliche Religion im Kern eine „Theologie des Leibes“ ist, eine „Religion des Berührens“ (22), frondiert sich der Herr gegen den haptischen Versuch Mariens.

Nancy untermauert seine linguistische Interpretation mit weitblickenden Quellen aus Literatur und Kunst (Rembrandt, Tizian, Dürer) und führt dem Leser dadurch die Spannung zwischen Tod und Auferstehung, zwischen Präsenz und Absenz realiter vor Augen. Wie ein Gemälde Distanz postuliert, um dadurch der bildnerischen Mehrdeutigkeit Raum geben zu können, so strahlt Christi Distanzierung eine soghafte Wirkung aus. Nancy charakterisiert diese Dramaturgie als das “in die Präsenz eingeschriebene Fortgehen“ (42).

Gleich den Attributen seiner Namenspatrone schrauben sich Nancys Gedanken in luftige Höhe, ziehen konzentrische Kreise und schaffen Distanz, um sodann die tieferliegenden Aspekte einzufangen, ein Bild der Liebe zu zeichnen, wodurch neuartige Begegnung, Berührung ermöglicht wird.

„Ohne dieses Lösen, ohne dieses Zurückweichen oder diesen Rückzug wären Anrühren und Pinselstrich nicht mehr, was sie sind und sie täten nicht mehr, was sie tun. … Die Berührung würde beginnen, sich in einem Greifen, in einem Anhalten, einer Collage, ja in einer Verklumpung zu verdinglichen … Es gäbe Identifikation, Fixierung, Eigentum und Bewegungslosigkeit. Halte mich nicht fest läuft auch darauf hinaus, zu sagen: Berühre mich mit einer wahren, zurückgehaltenen, nicht Besitz ergreifenden und nicht identifizierenden Berührung. Liebkose mich, berühre mich nicht.“ (70)

Florian Mayrhofer

Nancy, Jean-Luc: Noli me tangere. Diaphanes 2019, 80 Seiten, € 15,- ISBN: 9783035801866

Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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