Einheit und Reform in römischer Sicht

Römische Begegnungen“ – unter diesem Titel erwartet man vielleicht plauderhafte Schilderungen des unfreiwillig emeritierten ehemaligen Präfekten der Glaubenskongregation (2012-2017). Es ist jedoch ein kunstvoll komponiertes, dichtes Grundsatzwerk, das an die Form der platonischen Dialoge anknüpft und allen Gedanken um Einheit und Reform der Kirche eine überschaubare Struktur gibt. Müller spricht von sich in der dritten Person als „der (römische) Kardinal“ und lässt verschiedene Protagonisten auftreten, um seinen klaren Gedanken und auch den verunklärenden Gedanken anderer ein Forum zu bieten.

Nach einer Grundsatzbetrachtung „Alle Wege führen nach Rom“ führt der Weg zu einem Frühlingsempfang in der schönen deutschen Botschaft, wo Müller in verschiedenen „Stuhlkreisen“ u.a. Bischöfe, progressive und traditionalistische Theologieprofessoren, eine Feministin, Philosophen und den Romkorrespondenten der „Spiegelwelt“ auftreten lässt. Zurück in seinem Arbeitszimmer und seiner Bibliothek schwirren die Gedankengeister zwischen Faust und dem hl. Hieronymus, dem sich der intellektuelle Kardinal mit Blick auf Dürers bekannten Stich wohl ein wenig an die Seite stellt. Dort besuchen ihn ein französischer Kulturtheoretiker (das Buch erschien original in Französisch) und ein christlicher Journalist zu einem Gespräch über die Geistesgeschichte des Abendlandes bis hin zu ihren politischen Implikationen in Revolutionen und Terror. Henri de Lubacs Werk über das Drama des atheistischen Humanismus ist Referenzpunkt. Schließlich werden dem polnischen Journalisten Pawel Lisicki 32 Fragen zum Thema „Die Kirche im säkularen Zeitalter“ beantwortet. „Geduldig lässt sich der Kardinal zwei, drei Stunden befragen und denkt sich ‚Was tut man nicht alles für die Kirche'“. Auch das Thema Islam findet deutliche Antworten und „Amoris laetitia“ wird konstruktiv bewertet – trotz einiger kritischer Spitzen gegen Papst Franziskus in den zuvor gemachten fiktiven Äußerungen. Kirche und Papst sollten nicht auf den Applaus einer Mainstream-Mehrheit schauen, aber die Kommunikation mit der Welt angstlos führen. Gegenüber einem Mitbruder klärt „der Kardinal“ sodann die Frage nach den Grenzen päpstlicher Vollmacht und nach den verschiedenen Formen kirchlichen Gehorsams, die sich vom Gewissengehorsam gegenüber Gott unterscheiden.

Auch nach seiner „Kündigung“ und ohne päpstlichen Auftrag ist Gerhard Kardinal Müller ein führender Kardinal der Kirche mit Sitz in Rom. Das unkonventionell geschriebene Büchlein „Römische Begegnungen“ ist eine geistige Lesefreude, die allerdings Konzentration und inneres Mitentscheiden erfordert. Sie führt zum Wesenssinn kirchlicher Einheit und Reform. Auch zu aktueller Kirchenpolitik äußert sich der Kardinal, der 2017 ein großes Buch zu Theologie und Geschichte des Papsttums veröffentlichte, wenn er etwa das „Instrumentum laboris“ zur im Oktober 2019 anstehenden Amazonas-Synode theologisch kritisiert. Die Loyalität gegenüber dem regierenden Papst Franziskus wird auch durch den einen oder anderen Dissens nicht getrübt.

Stefan Hartmann

Müller, Gerhard: Römische Begegnungen, Herder 2019, 160 Seiten, € 18,- ISBN: 9783451385650

Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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