Ein Priester als Menschenretter
Der irische Priester Hugh O’Flaherty rettete im Zweiten Weltkrieg mehr als 6.500 Menschen aus 25 Nationen vor Verhaftung, Folter und Tod. Die beiden Autoren setzen dem katholischen Widerstandskämpfer mit der vorliegenden Veröffentlichung ein literarisches Denkmal und schließen zugleich eine klaffende Lücke, eigentlich einen abgrundtiefen Krater, innerhalb der deutschen Publikationslandschaft. Weit entfernt von Don-Camillo-und-Peppone-Geschichten charakterisieren Molfenter und Strempel die leidenschaftlich-dienende Liebe eines Priesters, der mitten im Weltenbrand zwischen Hautfarbe, Rasse, Nationalität und Religion keinen Unterschied zulässt. Nebenher bezeugen 412 Endnoten eine wissenschaftliche Recherchearbeit. Zuweilen wird O’Flaherty als der „Oskar Schindler von Rom“ gehandelt. Zweifellos überblendet dieser Ehrentitel den irischen Charakter. O’Flaherty war weder unternehmerischer Lebemann noch anfänglicher Profiteur des NS-Vernichtungswahns. Sein Vorwirken in den 30er-Jahren als Diplomat (Ägypten, Haiti, Santo Domingo, Tschechoslowakei) und Mitarbeiter im Heiligen Officium erlaubten O’Flaherty neben politischen auch kirchliche Kontakte zu knüpfen, die später in sein Hilfsnetzwerk münden sollten.

Die alliierte Invasion Siziliens ab dem 10. Juli 1943 und der darauffolgende Waffenstillstand von Cassibile im September desselben Jahres löste in Berlin den „Fall Achse“ aus, die Besetzung Italiens durch Truppen der Wehrmacht und Waffen-SS. In kürzester Zeit flohen jedoch über 80.000 alliierte Gefangene unter dem „Schutz“ der demobilisierten italienischen Streitkräfte, wovon 18.000 dem Zugriff der Hitlertruppen entgingen. Diese große Schar näherte sich, vom BBC-Sender dazu ermutigt, dem Territorium des vatikanischen Zwergenstaates, um dort entweder unterzutauchen oder aus dem Terrorgebiet der Nazis ausgeschleust zu werden. Der neutrale diplomatische Status des Vatikan untersagte und erschwerte jedoch offizielle Hilfeleistungen.
Paradoxerweise verschaffte O’Flahertys einziges Laster, das Golfspiel, das notwendige Zünglein an der Waage. Der daraus entstandene Bekanntenkreis reichte von der antifaschistischen Aristokratie bis zu einflussreichen Botschaftern und den grauen Eminenzen der Ewigen Stadt, wodurch Monsignore O’Flaherty die Finanzen des Hilfsprojektes zu stemmen vermochte; verschlangen doch Kost und Logis für 3.500 Personen in 200 zum Teil angemieteten Verstecken pro Monat umgerechnet 450.000 €.
O’Flahertys gelebtes Christsein lässt sich primär an seiner Hilfe für die britischen Soldaten ablesen. Als Seminarist durchlitt der Ire den pro-britischen Staatsterrorismus der „Black and Tans“ und entkam 1920 nur knapp deren Foltergefängnis. Nun agierte er als Schutzengel der ehemaligen Besatzungsmacht gegen den Kommandeur der Gestapo, Herbert Kappler, Hauptverantwortlicher für das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen und Symbolfigur deutscher Kriegsverbrechen in Italien während des Zweiten Weltkriegs.
Kappler befeuerte in Rom mit Exekutionen, Repressalien und Lösegeldforderungen die Spirale der Gewalt. O’Flahertys Widerstandsbündnis sprang auch bei der Erpressung der jüdischen Gemeinde Roms in die Bresche. Innerhalb weniger Tage konnte 50kg Gold abgeliefert werden, auf dass kein Mitglied der Gemeinde Roms deportiert würde. Die perfide Kombination von Erpressung und Täuschung beherrschte der Standartenführer perfekt, sein Spitzelnetzwerk entlarvte das lose kirchliche Hilfsnetz im preußischen Akkord und erklärte O’Flaherty für vogelfrei. Mehrere Mordversuche der Gestapo scheiterten.
Nach Kriegsende besuchte O’Flaherty seinen internierten Widerpart jeden Monat im Gefängnis und spendete dem „Henker von Rom“ auf dessen Bitte 1959 sogar die Taufe. Ein wahres Skandalon in den Augen der irdischen Gerechtigkeit, für den irischen Priester, der an den Funken Gottes in jedem Menschen glaubte, ein not-wendiges Resultat. Natürlich bleibt die wahre Umkehr Kapplers sowie die Flucht 1977 aus einem römischen Krankenhaus unter Mithilfe seiner in Festungshaft geehelichten Frau im Dunkeln, nicht jedoch der aktive Widerstand O’Flahertys. Obwohl seine Fluchtorganisation hinter die „weiße Linie“, der Trennung zwischen dem unabhängigen Vatikanstaat und der besetzten Stadt Rom, verbannt wurde, sprengte das Lebenswerk O’Flahertys sämtliche Grenzen.
Florian Mayrhofer
Molfenter, Arne; Strempel, Rüdiger: Über die weiße Linie. Wie ein Priester über 6.000 Menschen vor der Gestapo rettete. Eine wahre Geschichte aus dem Vatikan, DuMont 2016, 272 Seiten, € 9,99 ISBN: 9783832163532

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