
Spiritualität der jungen Kirche
Mit Erstaunen und Verwunderung würden die geistlichen Väter der ungetrennten Christenheit auf gewisse Ausformungen zeitgenössischer Spiritualität reagieren. Denn nicht nur die Pensionierung liturgischer Begriffe erreicht erdrutschartige Dimensionen, auch zentrale Kernthemen christlicher Spiritualität sind weitgehend aus dem sensus fidelium entschwunden. In erster Linie ist die Krise der Kirche, die Krankheit ihrer Glieder, eine Krise des Glaubens und der Gottesbeziehung. Wie ein hoch aufragendes Gebirge ragt die orthodoxe Spiritualität vor der erodierten westlichen Gesellschaft empor. Anders als irdische Angebote verheißt sie dem Menschen kein Wellness, keine vergängliche Eudömonia.

Der vorliegende Band fasst 13 Vorträge des Erzpriesters Georgios Metallinos zusammen, die am „Seminar für Orthodoxe Liturgie und Spiritualität“ der Russischen Auslandskirche in Frankfurt/Main vorgetragen wurden. Primär besticht ihre systematische Bezogenheit und die Dichte an patristischem und biblischem Material. Auf Basis beider Quellen wird dem Leser der Weg zur „Theosis“, zur Vergöttlichung, aufgezeigt. Pauli Parallelisierung von Kirche als „Leib“ und Christus als „Haupt“ bildet dafür den Ausgangspunkt. Dieser, für die Orthodoxie zentraler, Begriff charakterisiert Dionysius Arepogita als „so weit wie mögliches Ähnlich-Werden und Vereinigung mit Gott“. Alle menschlichen und kirchlichen Aktivitäten münden in diesem Ziel: das Leben in der Pfarrgemeinde, die Lehre der Kirchenväter, Gebet, Liturgie und Askese, das sozial-diakonale Engagement sowie die politischen Akzentuierungen des Christen. Wegweiser in diesem Kampf sind geisterfüllte, spirituelle Väter und Mütter, sogenannte „Geistträger“. Reinigung und geistlicher Kampf öffnete ihnen den Weg zur Rückkehr und zum Aufstieg zu Gottes Einheit. Unter ihnen ist der „Starez“ der bekannteste Formator ihm anvertrauter Seelen. Als Therapeut des Herzens soll er seine geistlichen Kinder zur Heiligkeit, zur neuen Schöpfung führen. Ausgehend vom Sündenfall und dem dazugehörenden Herausfallen aus der Einheit mit Gott, stellt die erneuerte Gottesbeziehung die erste Pflicht des Menschen dar (Neuplatonismus). Weniger sein persönliches Vermögen, sondern die Allmacht und Barmherzigkeit Gottes ermöglichen diese Umkehr. Von dieser Perspektive wird auch der Konnex zwischen Theologie und Pastoral, die Liebe zur Tradition und zum Dogma als „Dienst für Gott in Sorge um die Seelen“ (Basilius) beleuchtet. Das Dogma ist die „annehmbare Formulierung des Unausdrückbaren zur Heiligung des Menschen“. Die latente Ambivalenz zwischen Tradition und Innovation löst Metallinos, indem er wahrer Erneuerung nicht einen zeitlichen Maßstab anlegt, sondern sie am „ewig Neuen“, an Christus misst. Auch hier verdeutlicht sich die Rückkehr und das Bleiben in Christus sowie eine größtmögliche Interferenz mit dem Haupt.
Unbotmäßig wäre es, bei einem überzeugten orthodoxen Autor Eulogien über die katholische Kirche zu suchen, an vielen Stellen spart dieser nicht mit Kritik und Polemik. Diagramme in der englischsprachigen Ausgabe demonstrieren das „Lateinische Schisma“ von 1053 überdeutlich. Jedoch überrascht neben dem genuinen Grundtenor eine Schnittmenge auf anderer Ebene. Wörter wie „Reevangelisierung“, „Aggiornamento“, „Entweltlichung“ und „allgemeine Berufung zur Heiligkeit“ beweisen den Realismus seiner Darlegung und die Nähe zur katholischen Spiritualität à la Ratzinger, Escrivá und Wojtyła. Metallinos schließt mit dem Gedanken: In der Schau der Herrlichkeit Gottes erfüllt sich das menschliche Dasein. Die „vergotteten Heiligen“, die Väter und Mütter unseres Glaubens, erschließen uns mit ihrem Leben und ihrer Lehre die Mysterien des Reiches Gottes. Je mehr wir auf sie bezogen sind, desto sicherer wird unser Leben in Gott vollendet werden.
Florian Mayrhofer
Metallenos, Georgios: Leben im Leibe Christi. Christliche Spiritualität und materielle Welt, Wachentendon Verlag Edition Hagia Sophia 2. Auflage 2012, 220 Seiten, € 18,50 ISBN: 978-3937129525

