An der Schwelle des Abends
Liborius Olaf Lumma, Liturgiewissenschaftler an der Universität Innsbruck, hat eine verhältnismäßig schmale, aber dafür umso lesenswertere Studie über die Komplet vorgelegt. Er reagiert damit auf eine deutliche Akzentverschiebung in der Forschung, die – ganz im Sinne des Zweiten Vaticanums – sich auf die beiden Haupthoren Laudes und Vesper konzentriert. Der Autor verzichtet dabei auf eine erschöpfende Darlegung der Komplet in ihren verschiedenen Traditionssträngen und -verzweigungen und entscheidet sich vielmehr für eine einfühlsame, exegetisch und liturgiehistorisch fundierte Auslegung der Bestandteile der Komplet (also vor allem der Psalmen) in ihrer heutigen normativen Gestalt, wie sie die Liturgia Horarum und das Stundenbuch vorlegen.

Erfreulich ist, dass der Autor keineswegs das Rad neu zu erfinden gedenkt, sondern seine Untersuchung mit einer Fülle an Literaturangaben anreichert, die zum Weiterlesen anregen und die Themen aus einer anderen geistig-geistlichen Perspektive vertiefen können. Lumma bedient sich patristischer und mittelalterlicher Literatur ebenso, wie er einen souveränen Überblick über die Sekundärliteratur hat. Weiterhin besticht die Untersuchung durch ihre klare Strukturierung, besonders mit einem Schlussteil, der die Hauptuntersuchung mit sechs hierarchisierten, knapp zugespitzten und auf die liturgische Praxis zugeschnittenen Thesen zusammenfasst. Lummas Untersuchung mündet in folgendes Urteil: Der Autor geht keineswegs unkritisch mit der Entwicklung der Komplet in ihrer heutigen Gestalt um – der ursprüngliche Sitz im Leben dieser im Mönchtum (und nicht im Kathedraloffizium) entstandenen Hore sei ein Übergangsritual – der Mensch empfinde sich im Übergang vom Wachen zum Schlafen von Traumbildern bedroht, empfinde Angst und Ungeborgenheit im Angesicht der Nacht. Deshalb vertraue er rückhaltlos auf Gott, der ihn auch im Schlaf nicht verlässt: „In pace in idipsum dormiam et requiescam“; „Quoniam angelis suis mandavit de te, / ut custodiant te in omnibus viis tuis“. Zudem verweise die Nacht auf den Todesschlaf, weshalb das Nachtgebet auch eine Einübung in den drohenden Tod sei, den der Mönch jeden Tag vor Augen haben soll (RB 4,67). Lumma empfindet den Variantenreichtum der Komplet in ihrer heutigen Gestalt als eine gewisse Überfrachtung mit spirituellen Inhalten. So konzentriere sich die Freitagskomplet auf den Kreuzestod Christi – die letzte Hore sei in ihrer heutigen Gestalt zu sehr das Resümee eines Tages oder stelle einen Aspekt der Heilsgeschichte in den Vordergrund. An Lummas Argumentation erfreut, dass sie fundiert, begründet und maßvoll vorgetragen wird (er betont ausdrücklich, dass dogmatisch an dieser Akzentverschiebung nichts auszusetzen sei) und dass sie pastoral gut ausgewogen ist, da sie den Aspekt der Psychohygiene einfließen lässt. Eine thematische Gleichmäßigkeit, auch eine ruhige Gleichförmigkeit des liturgischen Ablaufs, eine Stabilität sei dem geistlichen Leben zuträglicher als das Prinzip „Variatio delectat“. Lumma steht in seiner Begründung durchaus in benediktinischer Tradition mit ihrem Prinzip der römischen Gravitas und Moderatio; ja in gewisser Weise pflegt er eine zisterziensische Lesart, ist der Orden von Cîteaux doch gegründet worden, um einem schlichten, ehrlichen Umgang mit der heiligen Liturgie Raum zu geben, der die prinzipielle Bereitschaft einschließt, die Traditionen zu rekognoszieren und sich ggf. von Überholtem oder von Überwucherungen zu trennen.
Selbst wenn man Lummas These nicht teilen sollte, ist seine Abhandlung, die die Eröffnungsriten, die Hymnen, die Psalmodie, die Kurzlesung, das Responsorium, das „Nunc dimittis“, die Orationen, die Segensformel und die Marianische Antiphon akribisch und einfühlsam interpretiert, eine Fundgrube für das geistliche Leben.
Eugenius Lersch
Lumma, Liborius Olaf: Die Komplet. Eine Auslegung des römisch-katholischen Nachtgebets, Verlag Friedrich Pustet 2017, 239 Seiten, € 39,95 ISBN: 978-3791728780

