
Kein islamisches Mittelalter?
Eine Gliederung der Historie in die Triade von Antike, Mittelalter und Neuzeit blockiert unser Geschichtsempfinden mehr als es dieses befördert. Besonders der kulturspezifische Begriff des “Mittelalters” charakterisiert die gegenwärtige Epochentypisierung als eurozentristisch und, sofern dieser Terminus auf andere Kontinente appliziert wird, als Kulturimperialismus. So irrig die Fiktion, es habe ein tangzeitliches Aachen gegeben (Ära der Tang-Kaiserdynastie, 618-907), so erratisch ist auch die Annahme eines islamischen Mittelalters. Sieben Gründe nennt der Autor warum es dieses nie gegeben hat: Der Begriff ist erstens ungenau, zweitens verführe er zu einem Trugschluss, sodann haften dem Mittelalterbegriff negative und diffamierende Konnotationen an, viertens exotisiert er den islamischen Kulturkreis, wobei fünftens die Geschichte imperialistisch in Beschlag genommen wird, sechstens fehle ihm die sachliche Grundlage und verstelle siebtens schließlich den Blick auf die wirklichen (geographischen) Epochengrenzen.
Thomas Bauer, Islamwissenschaftler in Münster, zeichnete bereits 2011 in seinem Buch über die “Kultur der Ambiguität” eine andere Geschichte des Islams. Beide Publikationen berühren indirekt das aktuelle Diskursfeld, der Islam sei im Mittelalter stecken geblieben, mit innovativen Argumenten. Bereits das Adjektiv “islamisch” demonstriere eine Vielzahl von religiösen Strömungen und kulturellen Prägungen. Primär versucht der Professor für Arabistik das antike Erbe auch außerhalb des europäischen Kontinents zu verorten. Ein alphabetisches Glossar alltäglicher Phänomene vergleicht die Entwicklungen von Orient und Okzident im Zeitrahmen von 500-1500. Die angeführten Beispiele aus Sozial-, Alltags-, Wirtschafts-, Mentalitäts- und Geistesgeschichte sollen dabei den nahtlosen Übergang im Nahen Osten demonstrieren, der im Gegensatz zum Westen keinen spätantiken Transformationsbruch erlitten hat. Bewahrung und Kontinuität des antiken Kulturguts im Osten charakterisiert auch die Epoche nach 1453. Der Autor widerlegt hiermit das europäische Monopol und die Deutungshoheit Europas über die Antike. Diese erweiterte Perspektive erlaubt es auch, das antike Legat von Gibraltar bis zum Hindukusch zu lokalisieren (romano-graeco-iranische Antike).
Inspiriert von Garth Fowdens These zur Periodisierung einer Religion in die prophetische, skripturale und exegetische Phase, bevor sie in die Reife eintritt, setzt Bauer die erste Epochenwende Mitte des 11. Jahrhunderts fest. Der Übergang von einer formativen (bis 11./12. Jh.) zur nachvormativen Ära „mit einer kontinuierlichen Entwicklung der einzelnen Wissenschaften“ (12.–19. Jh) und einer Phase, die durch die Auseinandersetzung mit der globalisierten Moderne gekennzeichnet ist”.
Mit reichen Belegen und fachkundigem Wissen bekundet Thomas Bauer die Grenzen abendländischer Periodisierungssysteme und enthüllt dabei den Nexus zwischen westlicher und östlicher Hemisphäre. Stellenweise provokante Formulierungen sind wohl eher als Aufforderung zum Diskurs zu interpretieren, so zum Beispiel die Darstellung der Erbsündenlehre als christliche Doktrin zur Unterdrückung bzw. die Rede vom islamischen Mittelalter als Ausdruck der europäischen Deutungshoheit über die Weltgeschichte sowie die pauschale Definition der Dhimma. Hier hätten Randnotizen aus profunder Feder zum islamischen Rückfallmechanismus und Kulturimperalismus Aufklärungsarbeit geschaffen.
Florian Mayrhofer
Bauer, Thomas: Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient, Verlag C.H. Beck 2018, 175 Seiten, € 22,95 ISBN: 978-3406727306

