Die Heiligen sprechen für sich

Kaiser Diokletian fasste während der letzten Christenverfolgung des Römischen Reiches das perfide Kalkül, nicht bloß jene Christen hinzumartern, die den Staatsgöttern nicht opfern wollten, sondern auch historische Textzeugnisse zu vernichten, die frühen Märtyrer dem verzehrenden Feuer der Damnatio memoriae zu überlassen. Die junge Kirche sammelte die fromme Erinnerung der Blutzeugen in ihren Legenden, mit dem großen Nachteil, dass einer Heiligenvita die historische Faktizität abhanden gekommen ist.

Eberhard von Gemmingens jüngstes Buch stützt sich nicht auf die Vergangenheit, den Heiligen versperrt keine Legende den Zugang zur Gegenwart. Der ehemalige Leiter von Radio Vatikan wählt einen rhetorischen Trick, um die Stimme der Heiligen wieder zu Gehör zu bringen: seine Predigten und Morgenandachten im Deutschlandfunk hält der Jesuit als Josef, als heiliger Banker Matthäus, in mystisch-mahnender Diktion eines Nikolaus von der Flüe sowie auch herausfordernd-exotisch als Martin Luther oder Galileo Galilei.

Cantus firmus der 28 Texte ist die Grundüberzeugung, die großen Männer und Frauen würden nicht wegen Kleinigkeiten und Strukturfragen am grünen Tisch sitzend debattieren, sondern „die Menschen auffordern, sich wieder auf den kraftvollen Kern des Evangeliums zu konzentrieren und Jesus Christus neu als Herausforderung und Inspiration zu begreifen“.

Die fiktiven Ansprachen durchbrechen gekonnt die Schweigespirale und berühren indes gesellschaftskritische Themata wie Glaube und Islam, sodann brandaktuelle Nagelproben wie den Lebensschutz. Der Jesuitenpater bekräftigt: „Wenn wir den Mann am Kreuz vergessen oder das Kreuz abhängen, dann verliert Europa seine Identität, seine Schönheit, seine Stärke. Weder Goethe noch Bach, weder Michelangelo noch Dürer sind ohne den Mann am Kreuz zu verstehen. Die Dramatik heute ist das Vergessen des Mannes am Kreuz!“

Von Gemmingens Glaubenszeugen gelingt es, die Schallmauer der Vergangenheit zu durchbrechen, an den Mann am Kreuz zu erinnern, an die Welt des 21. Jahrhunderts seine befreiend-aufrüttelnde Wahrheit mit einer Prise Humor und Ironie zu richten.

Florian Mayrhofer

Gemmingen, Eberhard von: Wenn wir die Heiligen fragen könnten. Was sie uns heute sagen würden, Herder 2018, 144 Seiten, € 16,- ISBN: 9783451379758

Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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