Von Zwietracht zu Freundschaft

Diese Rezension wurde unmittelbar vor dem Großbrand in Notre-Dame de Paris fertiggestellt und erscheint aus Gründen des Respekts und der Pietät erst jetzt.

Der Rezensent.

Die Kathedrale von Reims bezeugt als steingewordenes Monument der Gotik die einzigartige Leistung kultureller Schöpfungskraft. Zugleich fasst sie als Krönungskirche das Filigran einer nationalen Reliquie, verkörpert sie die bewegte Geschichte der Grande Nation. Es verwundert daher nicht, dass ihre Zerstörung im Stahlgewitter des 1. Weltkriegs in den Ländern der Entente und der neutralen Staaten, zumal in den USA, einen beispiellosen Propagandakrieg auslöste. Das mediale Gewitter suggerierte den deutschen Truppen einen vandalistischen Kulturkrieg, absichtliche Zerstörung und hunnisches Barbarentum. Nichtsdestotrotz ragte als Menetekel menschlichen Wahnsinns ein ausgebranntes Gotteshaus folgenlos über dem ausgebluteten Europa; vom September 1914 bis zur Restaurierung am Vorabend des Zweiten Weltkriegs.

Thomas Gaehtgens untersucht in der vorliegenden reichbebilderten Publikation die symbolische, architektonische und historische Wirkungsmacht der brennenden Kathedrale und ableitend daraus die politische Bedeutung religiös-kultureller Monumente. Als Gründungsdirektor des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris und langjähriger Leiter des Getty Research Institutes in Los Angeles vermag der promovierte Kunsthistoriker emotional überbordende Darstellungen, manipulierte Bildpropaganda sowie die Instrumentalisierung religiöser Empfindungen auf sachlicher und wissenschaftlicher Ebene zu deuten.

Seit dem Rape of Belgium und der darauf folgenden Zerstörung Löwens im Ersten Weltkrieg durch deutsches Kriegsgerät wurde nicht nur die Universitätsbibliothek mit ihrem unersetzlichen Buch- und Handschriftenbestand, sondern auch die gesellschaftliche Reputation des deutschen Kulturvolks ein Raub der Flammen. Löwen, Reims und das torpedierte Passagierschiff Lusitania waren fortan Zeugen für das Martyrium der Zivilisation. Diesen Gedanken folgend zog die preussische Pickelhaube in Form eines tollwütigen Gorillas über den Kontinent, alles durch seine germanische Urbrutalität zerstörend, so ein von Gaehtgens analysiertes US-amerikanisches Propagandaplakat.

Parallel zu den demagogischen Anfeindungen auf beiden Fronten geht der Autor auch dem Mythos der Gotik in Frankreich auf den Grund. In Zeiten des Ringens um ein austariertes Verhältnis zwischen laizistischem Staat und katholischer Bevölkerung repräsentierte der Sakralbau von Reims einerseits die französische Nation mit ihren christlichen Wurzeln, die Gotik als nationalen Baustil, andererseits die Rückbesinnung auf das im Mittelalter verkörperte Christentum. Sowohl Architektur wie auch das Gotteshaus an sich standen für eine Rechristianisierung der Dritten Republik Pate, ein Gedanke, mit dem sich auch der Nachbar jenseits des Rheins beschäftigte. Seit Goethes Schrift „Von deutscher Baukunst“ (1772) galt die Gotik in den deutschen Ländern als genuin deutsche Baukunst. Auch dem konfessionell heterodoxen Norddeutschen Bund bot die Kunstrichtung Anlass, die Sehnsucht nach einem postnapoleonischen Nationalstaat aufleben zu lassen.

Die deutsche Gotikbegeisterung des ausgehenden 19. Jahrhunderts korrespondiert mit einer antinapoleonischen bzw. antifranzösischen Haltung. Mit der Vollendung des Kölner Doms just in den Wirren des Kulturkampfes sollte unter und mit preussischen Mitteln ein neues „vaterländisches Symbol“ geschaffen, die Versöhnung und Bindung der katholischen Rheinlande an Preußen besiegelt werden. Im Zuge dessen ging die „enthusiastische Entdeckungsreise“ soweit, dass preussische Historiker den germanischen Norden zur Keimzelle gotischer Reinkultur titulierten, wenngleich die rheinische Domkirche ihr Vorbild in der französischen Kathedrale von Amiens findet.

Ein Gedankengefängnis, das auch in Zeiten der Wiedereinweihung im Jahr 1938 vor Hoffart strotze. Vor der Restauration dominierten Erwägungen, die Kirchenruine als Mahnmal und Memorialbau der „barbarie teutone“ oder als Begräbnisplatz und Pantheon zu erhalten. Den Wirren des 2. Weltkrieges trotzend, erfolgte eine postfaktische Genugtuung. 1945 hatten die Alliierten zur Kapitulationsunterzeichnung nach Reims geladen. Der Lauf der Geschichte wäre hiermit besiegelt. 1962 sollte abermals Blitzlichtgewitter über der Stadt in der Champagne aufleuchten, jedoch nicht von vandalischem Mündungsfeuer, sondern von erstaunten Journalisten, die der deutsch-französischen Versöhnung zwischen Charles de Gaulle und Konrad Adenauer beiwohnten. Höhepunkt der religiös verbrämten Völkerverständigung bildete eine Heilige Messe in der „Friedenskirche“ von Reims. Der Élysée-Vertrag erntete die Lorbeeren.

Thomas Gaehtgens Opus streicht nicht zuletzt den Erinnerungsort der deutsch-französischen Freundschaft, die Empörung, den Hass und die Wunden der Zivilisation hervor. Die Königin der Kathedralen demonstriert die Versöhnungsmacht auf kulturell-religiöser Basis. „Dass sich der heutige Leser angesichts der Unmenge an Wut und Hass, die ihm aus den Propagandaschriften der Kriegsjahre entgegenschlägt, nur mehr verwundert statt erregt, bezeugt, wie selbstverständlich ebendiese Aussöhnung zum Glück geworden ist.“ (Bernhard Schulz)

Florian Mayrhofer

Gaehtgens, Thomas W.: Die brennende Kathedrale. Eine Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg, C.H. Beck 2018, 351 Seiten, € 29,95 ISBN: 9783406725258

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