Die Lunte am Pulverfass der Gesellschaft

Bereits 2016 betonte Francis Fukuyama das grundsätzliche Problem modern-liberaler Demokratien: Sie bieten zwar wirtschaftlichen Erfolg sowie Sicherheit, stiften aber weder Stolz noch Gemeinschaft oder Identität. Religionen und Ethnien vermögen, diese Facetten viel stärker hervorzubringen und bilden zudem weltanschauliche Alternativen, erfüllen das tiefe Bedürfnis des Menschen. Als Politologe konstatierte er 1992 in seinem Erfolgstitel das „Ende der Geschichte“ die Erwartung, mit dem Scheitern beider totalitärer Regime, dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems und dem Sieg demokratischer Strukturen sei ein neues, von dialektischen Widersprüchen erlöstes,Endkapitel der Weltgeschichte angebrochen. Jedoch zwang der schlagartige Zusammenbruch dieser These nach dem 11. September 2001 den renommierten Stanforder Professor zur Kurskorrektur. Fortan steuern identitätszentrierte politische Handlungen, die Wut über die Erniedrigung, die Weltgeschichte, deren zentrale Triebfeder mit der platonischen Seelenlehre umschrieben werden kann. Im Sinne der ethischen und politischen Philosophie Hegels beschreibt der Autor den „dritten Teil der Seele“, den Thymos, als das menschliche Geltungsstreben nach Würde. Dementsprechend widmen sich die ersten Kapitel der geistesgeschichtlichen Begriffsgenese. Der japanischstämmige US-Autor erweitert dieses Begriffspaar mit „Megalotymia“ und „Isothymia“. Dass damit auch religiös konnotierte Sozialbereiche tangiert werden, beweisen jüngste politische Einflussnahmen (36-37) auf den Gesellschaftskern: Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die „Ehe für alle“ über die westliche Welt mit dem Imperativ nach Würde und Anerkennung, nach Identität von inneren und äußeren Gegebenheiten.

Ausgehend von der inneren und äußeren Trennung bei Martin Luther habe das „innere Selbst“ eine höhere Stufe erklommen und zudem im Zuge persönlicher Introspektion seine Vielschichtigkeit offenbart. Jean-Jacques Rousseau führt diesen Individualismus fort, säkularisiert das Innenleben, indem er die Erbsünde leugnet, an ihre Stelle die Vergesellschaftung setzt und damit äußere Vorschriften als Fallstrick für die Verwirklichung des inneren Potentials und Glücks charakterisiert (51). Die subjektivistische Wende wurde von der Französischen Revolution mit ihrem Kampf um Würde weiter vorangetrieben, durch den Korsischen Feldherrn an die Ränder Europas getragen und die Würde aller Menschen in den folgenden demokratischen Aufwallungen in Recht und Gesetz verbrieft. (60)

Jedoch folgte dem langen 19. Jahrhundert auch eine psychologische Entwurzelung, das Verschwinden gemeinsamer religiöser Horizonte, gepaart mit moralischer Verwirrung und dem Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, wobei das Persönliche zum Politikum wurde (87). Der Ethnonationalismus stand der Identitätskonfusion als Antithese gegenüber, der Verlust des sozialen Status im wirtschaftlichen Verfall hatte die demokratische Rezession im Schlepptau, womit die Einwanderungsfrage stellvertretend für ökonomische Interessen fokussiert wurde. Nach den Urkatastrophen der Weltkriege interpretierte man die liberale Gesellschaft nicht bloß als politische Ordnung, sondern als System, das „aktiv zur vollen Verwirklichung des inneren Selbst beiträgt“ (117). Die politischen Strukturen, zumal die links-sozialistischen, konzentrierten sich zunehmend auf immer kleinere Gruppen, das Prinzip der universalen Anerkennung mutierte zur speziellen Anerkennung einzelner Gruppen: pluralistische Identitäten waren geboren. Paradoxerweise forderte das neue politische Etikett des „Multikulturalismus“ den einheitlichen Respekt vor Kulturen, „selbst wenn diese die Autonomie der zu ihnen gehörenden Individuen einschränkten“ (137).

Im weiteren Verlauf untersucht der Autor das therapeutische Modell der Popkultur, die Antithese zum religiösen Vakuum, als Zentrifugalkraft, indem mit der Forderung nach subjektiver Selbstachtung ein „lähmender Narzissmus“ (124) einherging und selbst in kirchlichem Sprachgebrauch die Kraft des Wortes schwächte. Politik wie Verkündigung sind genötigt, sich an der jeweiligen Identität des Individuums zu orientierten, identitätspolitisch zu agieren, spezifische Interessen zu garantieren und den Zellkern der Gesellschaft durch das partikuläre Pluriversum aufzuspalten. Das zeitgenössische Phänomen identitätsfixierter Staatskunst ist die Lunte am Pulverfass der Gesellschaft. Trump, Orbán, Kaczyński und der „Trump der Tropen“ Jair Bolsonaro wären im Duktus des Politologen die Brandstifter. Zeitgenössische Krisenzeiten insistieren auf einen Normenwandel (199), Neudefinition, Integration und Einbindung des Individualismus in größere Gesellschaftssegmente. Erst die nationale Identität ermöglicht eine liberale Demokratie. Sie geht von einem latenten Vertrag zwischen Bürgern und Politikern aus, der gebietet, gewisse Ansprüche aufzugeben, damit die „Regierung andere fundamentalere Rechte schützen kann“ (158).

Dass ein Politikwissenschaftler keine religiösen Lösungsvorschläge liefert, sondern globalistische, zum Teil marktwirtschaftliche, wie etwa eine gemeinsame europäische Staatsbürgerschaft, steht außer Frage. Dass jedoch das christliche Konzept der gleichwertigen Würde (57) aller Menschen im Hinblick auf deren Verantwortung für die politische Gemeinschaft (66) im kirchlichen Fokus stehen muss, sollte nicht weiter betont werden, muss es aber. Je mehr ein Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, desto drängender ist das Mandat an die Una Sancta, die kirchliche Einheit in ihrer apostolischen Katholizität zu bewahren, sich dem Identitätskerygma zu entziehen, das Zukunftskonzept der „Entweltlichung“ voranzutreiben.

Florian Mayrhofer

Fukuyama, Francis: Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, Hoffmann und Campe 2019, 236 Seiten, € 24,- ISBN: 9783455005288

Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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