Im Kochtopf des Kannibalen
Es gehört wohl zum Schutzmechanismus der menschlichen Psyche, dass wir, ohne aktives Sensorium dafür zu entwickeln, den permanenten Feuerzauber unserer Umwelt kaum mehr wahrnehmen. Allen voran hüllt uns die Kanonade des Konsumwettrauschs in dichte Nebelschwaden. Ein Geist bahnt sich vom Unbewussten ins Unterbewusste seinen Weg und öffnet von innen die Tür für eine Geistesströmung, die sinuskurvenförmig anziehende und abstoßende Wirkung erzeugt. Weil niemand dieses Geistes habhaft werden kann, nennen wir ihn „Zeitgeist“, zumal die Zeit ebenso allgegenwärtig und unbändig ist. Kirstine Fratz versucht in ihrem Buch, den Nerv der Zeit zu treffen, nämlich durch die Hinterfragung greifbarer Phänomene auf eine kulturelle Metaebene vorzudringen und unsere gesellschaftliche Triebfeder zu finden. Wer den Trends bloß hinterherhinkt, gilt in der Marketingbranche bereits als Auslaufmodell. Wer aber dem Zeitgeist hinterherläuft, wird bald ebenso als Witwer enden. Der Zeitgeist ist nach Fratz ein „leiser Souffleur“, der uns Stichworte zuflüstert, die aber in Wirklichkeit unser Leben diktieren und einschränken. Mit Immanuel Kant läge hier der Gedanke an die „selbstverschuldete Unmüdigkeit“ nahe, der Ruf zur Aufklärung. Sapere aude! Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bemühen.

Ziel und Ausgangspunkt des Zeitgeistes sind unsere ungeordneten, unbewussten Sehnsüchte. Sie treiben die Evolution des Zeitgeistes voran. Sobald der Zenit überschritten ist, der Zahn der Zeit zu nagen beginnt, schlägt das Pendel in die andere Richtung. Als Marketingberaterin weist Fratz eine starke konsumorientierte Analyse vor, die jedoch teilweise psychologische Aspekte inkludiert. Wäre der Hyper-Individualismus vor einigen Jahren noch als Egoismus abgestempelt worden, so lautet die Devise heute: Folge dir selbst, sei keine Kopie, sei der völlig autonome Autor deiner Biographie. „Make me great again“ ist die DNA salbungsvoller Werbung und politischer Strömungen. Der Kollaps ist vorprogrammiert, wenn die Frage der Bedeutung mundtot gemacht wird. Dabei steht nicht die Überwindung des Zeitgeistes im Fokus, vielmehr die Bewusstwerdung, welche Auswirkungen sein Einwirken hervorrufen. Fehlt dazu der Mut, entpuppt sich das Leben als ein Marionettentheater unter dem Diktat eines „leisen Souffleurs“. Der Wind weht, wo er will, der Mensch tanzt nach seiner Pfeife.
Vorzüglich rückt das 5. Kapitel (91-109) die Zeitgeist-Dynamik in den Vordergrund und analysiert in geraffter Form soziologische Besonderheiten seit den 1970er-Jahren, die das Zeitgeist-Rad jeweils in die gegenkulturelle Richtung drehten. Die vollkommene Entgrenzung der Hippies rief in den 80ern das Lifestyle-Diktat der Labels auf den Markt, die Leitkultur der Leistungsgesellschaft mit dem „Kokain als Schmiermittel“. Mangelnder Selbstausdruck rollte in den 90ern den Selfdesignern den roten Teppich aus. Der extatische Höhenflug kulminierte in der Selbsterschöfpung. Wellness und Yoga entschleunigten, Ritalin und Dr. Kawashimas Gehirn-Jogging ebneten der Start-Up-Szene den Weg.
Die Zeitgeistforscherin versucht das „Bewusstsein“ für diese Umtriebe zu schärfen und hinterfragt, wie zeitgeistliche Strömungen in die Welt gelangen. Unbestreitbar spielen Medien, zumal die Filmindustrie (Ex Machina, Lucy und Creative Control werden u.a. untersucht), eine große Rolle und beflügeln das Marketing. An dieser Stelle würde jedoch ein stärkerer Schwerpunkt auf die Verschränkung von Konsum, Psychologie und Philosophie (eine Etymologie fehlt) überzeugen, „Bewusstsein“ wecken, zur Achtsamkeit erziehen, Wahrnehmung schärfen und somit die natürliche Intuition beflügeln. Fratz hatte dies mit den Londoner „Baby Brain Spas“ und Omega-3-Hühnereiern zuvor ironisch demaskiert. Der weitere Verlauf des Buches, seine Exkurse sowie Kurzbeispiele, liefern kostbare Fundstücke und Gedanken, hätte jedoch auch prägnanter ausfallen können.
Das Buch vom Zeitgeist erlaubt mit seiner freundlichen Sprache hinter die Fassade des Zeitgeistes zu blicken. Fratz Vortragstätigkeit schlägt sich hier nieder. In einem Interview sagte die Kulturwissenschaftlerin, sie sei dafür ausgebildet worden, nach Papua-Neuguinea zu fahren und Kannibalen zu erforschen. Der Zeitgeist frisst uns ebenso. Teilweise hat es den Anschein, als würde jemand aus dem Nähkästchen plaudern. Gemäß ihrer Selbstcharakterisierung (149) berät die Autorin Unternehmen, indem sie die neuen bewussten und unbewussten Sehnsüchte und Bedürfnisse der Zeitgeist-Dynamik ermittelt und Kaufimpulse aufzeigt. Speziell in diesem Kontext wären tiefergehende psychologische Analysen wünschenswert. Verlagstechnisch hätte ein christliches Begleit- und/oder Schlußwort die Türe zum heiligen Antagonisten des Zeitgeistes aufgetan. Die Erlösungebedürftigkeit (163) und die „Re-Spiritualisierung“ (220) sind dem Text grundgelegt. Umsomehr könnte der fontis-Verlag Glauben wecken und Kultur gestalten, insofern in einer zweiten Auflage z.B. die ökologische Zivilreligion, die energetische Tugendhaftigkeit oder die komplexe Konsummoral unter diesem Fokus beleuchtet werden würde.
Florian Mayrhofer
Fratz, Kirstine: Das Buch vom Zeitgeist. Und wie er uns vorantreibt, Fontis Verlag 2017, 240 Seiten, € 18,- ISBN: 9783038481270

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