Die große Entkopplung
„Bei Anbruch des dritten Jahrtausends erwacht die Menschheit, streckt ihre Glieder und reibt sich die Augen. Die Reste eines schrecklichen Albtraums schwirren ihr noch im Kopf herum. (…) Dann macht die Menschheit sich einen Kaffee und schlägt den Kalender auf. Mal sehen, was heute auf der Agenda steht.“

So beginnt der Bestsellerautor Yuval Noah Harari, Historiker an der Hebräischen Universität von Jerusalem, seine Zukunftsvision über den „Homo Deus“. Die Menschheit hat die Welt erobert. Dies konnte sie erreichen, weil sie im Gegensatz zur Tierwelt in herausragender Weise kooperativ ist. „Jede menschliche Zusammenarbeit im großen Stil beruht letztlich auf unserem Glauben an erfundene Ordnungen.“ Dazu gehört die Fokussierung auf die intersubjektive Realität. Solche Ordnungen spiegeln beispielsweise das Geldwesen oder das Schulnotensystem wider. Nachdem der Mensch seine drei Hauptfeinde – Hunger, Krieg und Seuchen – besiegt hat, macht er sich nun auf, selber Göttlichkeit zu erlangen. Er lässt die sinnvolle Deutung seines Lebens und seiner Umwelt außer Acht und strebt nach reinem Informations- und Wissensgewinn. Dabei verliert er als Anhänger einer „totalitär technikversessenen Daten-Religion“ das Bewusstsein und macht sich in seiner Gier schließlich selbst überflüssig.
Der Mensch gibt sich also nicht zufrieden. Unsterblichkeit ist das nächste Projekt der Menschheit (genauer: einiger Eliten). Der Mensch wird dazu verleitet, sich selbst zu einem Mensch-Maschine-Hybriden zu machen. Denn im Zeitalter der Technik bedeutet Organismus nur noch Begrenzung. Dieser technologieverstärkte Mensch wird sich vollständig von seiner vorherigen Seinsstufe des Homo sapiens unterscheiden. „Doch selbst die Erfindung von Cyborgs ist eine relativ konservative Sache, insofern sie von der Annahme ausgeht, organische Gehirne würden weiterhin als Kommando- und Kontrollzentren des Lebens fungieren.“
Wird die künstliche Intelligenz dem Menschen eines Tages überlegen sein, koppelt sich die Intelligenz von individuellem Bewusstsein ab. Der Mensch kann dann froh darüber sein, wenn sie mit ihm freundlicher umgeht als der Mensch mit den Tieren. Denn aus der Angst heraus, die Menschheit könnte ihre Entscheidung für die Existenz der KI zurücknehmen, wäre es denkbar, dass sie die Auslöschung der Menschheit herbeiführen will. „Mit Hilfe von Biotechnologie und Computeralgorithmen werden diese Religionen nicht nur jede Minute unseres Daseins kontrollieren, sondern auch in der Lage sein, unseren Körper, unser Gehirn und unseren Geist zu verändern und durch virtuelle Welten zu erschaffen.“ Die Vorstellung einer Auflösung der Grenzen zwischen Körper, Technologie und sogar sogenannten Cyborg-Cities ist beklemmend. Dennoch ist diese düstere Prognose bereits heute schon real zu beobachten, wenn die Menschen mit ihrem Smartphone wie ferngesteuert in einer virtuellen Realität leben.
Für humanistische Größen wie Individualismus, Seele und freier Wille bleibt kein Platz mehr. An die Stelle sind subjektive Erfahrungen und Gefühle getreten. Der moderne Pakt lässt sich auf den Satz zusammenfassen: „Die Menschen stimmen zu, auf Sinn zu verzichten, und erhalten im Gegenzug Macht.“ Durch die zunehmende Automatisierung verliert der Mensch jedoch die Kontrolle. Er droht obsolet zu werden. Dennoch besteht für Harari die „religiöse Revolution der Moderne nicht darin, den Glauben an Gott zu verlieren, sondern den Glauben an die Menschheit zu gewinnen.“ Der Mensch braucht keinen Gott, der ihm einen Sinn gibt, sondern nur die Entscheidungen der Konsumenten und Wähler. „Was also wird passieren, sobald wir merken, dass Konsumenten und Wähler niemals freie Entscheidungen treffen, und sobald wir über die Technologie verfügen, um ihre Gefühle zu berechnen, zu beeinflussen oder zu überlisten?“ Bei einer Politik und Moral, die auf subjektiven Erfahrungen aufgebaut sind, lässt sich unschwer das Dilemma erkennen. Es geht Harari jedenfalls um die Frage, welche ethischen Fragen mit dem Technologiezeitalter entstehen. Und die Kernthese lautet: „Die gleichen Technologien, die Menschen zu Göttern erheben, können sie auch irrelevant machen.“ An dieser Stelle wird fraglich, ob der von Harari so voreilig als entbehrlich bezeichnete Gott nicht gerade einen Weg aus dem Dilemma heraus eröffnen könnte?
Harari ist einer der wenigen Kritiker des Silicon Valley, der die Transformationen von Mensch und Gesellschaft, die mit der künstlichen Intelligenz einhergehen, zu deuten vermag. Er spannt einen weiten globalgeschichtlichen Bogen und bewegt sich durch die verschiedensten Fachdisziplinen. Dabei neigt er manchmal zu Vereinfachungen und gelegentlich fehlt seinen gewagten Behauptungen das Suchende und Zögernde. Doch der Weckruf des Buches ist nicht zu überhören. Harari will nicht die Zukunft vorhersagen, sondern erkennen lassen, was eintreten könnte, wenn niemand eingreift.
Wer sich mit dem sehr selbstsicheren Stil des Autors arrangieren kann, wird das Werk animierend, erkenntnisreich und der Diskussion unbedingt würdig finden.
Michaela Starosciak
Harari, Yuval Noah: Homo Deus. Eine kurze Geschichte von Morgen, C.H.Beck Verlag 10. Auflage 2018, 653 Seiten, € 14,95 ISBN: 9783406727863

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