Das unruhige Herz

Die berühmte Ouvertüre der augustinischen Confessiones findet ihren Widerhall im unruhigen Herzen einer frühvollendeten, im holländisch-jüdisch-säkularen Umfeld aufgewachsenen Zeitzeugin. Ihre autobiographischen Schriften offenbaren Sinnfrage und Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit und den Weltschmerz unserer Zeit. 40 Jahre nach der großen Katastrophe und dem Verwehen ihrer Lebensflamme finden Etty Hillesums selbstanalytische Diarien eine jähe Auferstehung. Bereits Esthers (Ettys) Geburt als Tochter einer aschkenasischen Jüdin (Rebecca) und eines assimilierten Lateinprofessors (Louis) ist ein Omen für die Ambivalenz ihres Lebens. Vor allem dem belgischen Jesuiten Paul Lebeau ist es zu verdanken, dass er die Gottsucherin vor dem Verschwinden in der Anonymität des Völkermordes durch eine vielbeachtete Edition ihrer Schriften bewahrt hat. Das vorliegende Buch zeichnet die verschiedenen Wendepunkte ihres Lebens nach, wobei Etty in zahlreichen Passagen selbst zu Wort kommt.
Das Jahr 1941 sollte der lebensfrohen Dame die Akzentverschiebung ihres Lebens einleiten. Ausschlaggebend dafür war der 1938 aus Deutschland geflohene Chiropsychologe Julius Spier, ein zeitweiliger Schüler C. G. Jungs. Etty begann auf Spiers Anraten mit ihren Tagebuchaufzeichnungen. Sie entdeckte in dem Emigranten väterliche Züge, woraus später eine mäeutische Liebesbeziehung hervorging. Seit der Adoleszenz prägten amouröse Liebeserfahrungen und alterniernde Begleiter ihr Leben. Amsterdams Libertinismus, sie studierte dort Jura und Slawistik, bereitete ihr aber zunehmend eine „seelische Verstopfung“. Die Ambivalenz zwischen komplexen Beziehungen und einer unbefriedigten Sehnsucht bekennt sie mit entwaffnender Ehrlichkeit: „Es ist mühsam, mit Gott und mit deinem Unterleib auf gleich gutem Fuß zu stehen.“ Spiers therapeutischer Ansatz, sich selbst offenbar zu werden, die geistliche Entwicklung aufzuzeichnen und zu vergleichen, lenkte Ettys Hingabe auf die eigene Selbsterkenntnis, in der sie Einsamkeit, Scham und Selbsthass bemerkte, die sie zur Auslieferung und damit zur Selbsttäuschung verführten. Umso erstaunlicher wirkt die Tatsache, dass der deutsche Psychoanalytiker, selbst kein Heiliger und Asket, seine ungeordnete Sinnlichkeit zu bändigen versuchte. Er war ein Kämpfer, der selbst das Fechten lernte. Davon zutiefst beeindruckt wollte auch sie den „Titanenkampf“ aufnehmen. Dabei entdeckte die 27-Jährige eine ungeahnte Dichotomie von Leib und Geist, die sie dahingehend führte. Hellsichtig hinterfragte Etty ihre geheimen Motivationen. Zum ersten Mal entrann aus ihrer Feder ein Gebet und die Erkenntnis, Freundschaften jenseits der erotischen Leidenschaften zu suchen.

Ettys innere „Neugeburt“ fand mit dem Bemerkbarmachen ihrer eigenen Leiblichkeit ein vorläufiges Ende, als die Frucht heranwuchs, die aus der Liaison mit Han Wegerif, einer väterlichen Ersatzfigur, entstammte. Aufkeimende Scham endete in der Tötung der Selbst-ent-täuschung und bereitete doch dem Leben einen schicksalsträchtigen Wendepunkt. Sie spricht von der „Bewusstwerdung“, dass ihre Leidenschaftlichkeit nichts anderes war als ein verzweifeltes Festklammern an etwas, „woran man sich mit dem Körper gar nicht festklammern kann.“ Spätestens mit dem Tod Spiers Ende 1942 befreit sich ihre individuelle Liebe zu einer universellen Menschenliebe, die schließlich in der Gottesliebe den Höhepunkt erreicht. Dabei unterzieht sich auch ihr Ideenkosmos einer Metamorphose: Alltagserfahrungen aus der Passion zwischen den Geschlechtern überträgt sie fortan auf ihre Zwiesprache mit Gott, der dadurch die Grammatik der Intimität und Liebreiz zuteil wird.
Fortan soll diese intim-liebende Beziehung zu Gott Ettys Leben durchformen und peu à peu das Durcheinander von Eitelkeit, Halbherzigkeit und Minderwertigkeit in ihrem „seelischen Mülleimer“ aufdecken. Diesen Stall des Augias will sie durch Selbstfindung, Liebe und Annahme ihrer selbst reinigen. Dabei ist ihr die Anrufung Gottes, die aus kurzen Bittgebeten zu einer intimen Kindbeziehung gewachsen ist, für diese Herkulesaufgabe ein treuer Begleiter. „Gibt es denn noch etwas so Intimes, als eines Menschen Verhältnis zu Gott?“ lautet eine der fragenden Erkenntnisse dieser Entwicklungsphase, die im Bewusstsein präzisiert wird, dass der Himmel und Gott in ihr leben.
Parallel zu dieser Erleuchtung brauten sich über Hollands Juden zunehmend bedrohliche Gewitterwolken zusammen. In Analogie zu jenem baskischen Soldaten, dem eine französische Kanonenkugel bei der Belagerung der Festung Pamplona das Bein zerschmetterte, konfrontiert sie der nahende Tod mit dessen wahrer Bedeutung: „Er hat eine offenbarende und anleitende Bedeutung für die Freiheit und ein authentisches Leben.“ (Lebeau). Erschütternd nüchtern spricht sie ihr zutiefst biblisches „fiat“ – Spier hatte sie zur biblischen Lektüre angehalten. Gerade als die düstersten Zeilen in die Annalen der Menschheit eingeschrieben wurden, spricht Etty von „opstaan“, von aufstehen. Ohne das genaue Gewicht dieser Wörter austarieren zu können, orientiert sich die Jüdin doch an jener Richtung, die Christus in seinem österlichen Hingang in die menschliche Historie skizziert hat. Ihr Sozialdienst bei der Registrierung im KZ-Durchgangslager Westerbork brachte sie nun mit jenen getauften Juden in Berührung, die als Vergeltungsmaßnahme auf den mahnenden Weckruf des Utrechter Erzbischofs zur Deportation freigegeben wurden. Darunter auch der Trappisten-Konversbruder George Löb und „die zwei Nonnen aus der streng, orthodoxen, reichen, hochbegabten Familie aus Breslau, mit dem Stern auf ihrer Klostertracht“: Edith Stein und ihre leibliche Schwester Rosa. Bis zu ihrer Ermordung am 30. November 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau wandelt sich ihr Tagebuch zu einem Gebetbuch. So lautet eines ihrer letzten Gebete: „Du hast mich so reich gemacht, mein Gott, lass mich auch mit vollen Händen austeilen können. Mein Leben ist zu einer ununterbrochenen Zwiesprache mit dir geworden … Der Wellenschlag meines Herzens ist hier breiter geworden und bewegter und gleichzeitig ruhiger, und es ist mir, als werde mein innerer Reichtum immer größer.“

Beim Phänomen Etty Hillesum fallen die Grenzen zwischen Schöpfer und Geschöpf. Obwohl ihr keine religiöse Formung in die Wiege gelegt wurde, ist in ihrem späteren Leben doch der Grundtenor einer tiefen und innigen Gottesliebe hörbar. Hier überschneiden sich die Biographien von Esther Hillesum, Edith Stein und Simone Weil. Sie bekunden das Verhältnis des Menschen zu seiner Gottesbeziehung auf je spezifische Weise, wobei Etty aus ihrem Leben „ein andauerndes Hineinhorchen in mich selbst, in andere, in Gott“ gemacht hat und damit die Sinnfrage jedes Glaubenden und jedes Menschen beschreibt.

Florian Mayrhofer

Lebeau, Paul: Das suchende Herz. Der innere Weg von Etty Hillesum, Patmos Verlag 2016, 335 Seiten, € 19,99 ISBN: 978-3843607803

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