
Gott als Zentrum unserer Existenz
Wer vermag nach den messbaren Erkenntnissen moderner Tage wahrhaftig zu wissen, wie der, den das Christentum als „Gott“ bezeichnet, wirklich ist? Und ist „er“, falls es „ihn“ denn gibt, überhaupt konkret, real? Ist diese abstrakte Macht, welche höchstens der Intuition mancher Menschen entspringt, nicht vielmehr das allgemeine „Göttliche“? Die Weltseele? Diese Frage wird in der abendländischen Gesellschaft konkret real. Die Folge: Der überzeugte Glaube an einen sich klar offenbarenden Gott schwindet. „Gottvergessenheit herrscht, weil sie perfekt in das moderne Selbstverständnis hineinpasst.“ (25), schreibt Paul Josef Cordes in dem hier behandelten Werk, in dem er kritische Antworten liefert. Bekannt ist der Kardinal unter anderem als Initiator der Weltjugendtage unter Papst Johannes Paul II. Auch hat Cordes ein gutes Verhältnis zum emeritierten Papst Benedikt XVI., den er in der Hinführung dieses Buches hochachtungsvoll als seinen „Lernhelfer“ und „Mentor“ beschreibt (18).

Cordes skizziert zu Anfang die eben angedeutete gesellschaftliche Situation und belegt, dass das Verhältnis zu einem „persönlichen Gott“ heute zu kurz kommt. Selbst unter vielen Christen wandelt sich einstige Lehre mit Wahrheitsanspruch zu einem an den Zeitgeist anpassbaren „Gott im Taschenformat“ (42). Dies führt unter anderem dazu, das Alte Testament häufig als irrelevant oder gar als erfunden abzustempeln. Hier knüpft Cordes zunächst an, um tiefgründig auf einen Gott hinzuweisen, der sich und sein Wesen aus eigener Initiative den Menschen geoffenbart hat, zuallererst durch sein auserwähltes Volk, dem Judentum. Der Autor beleuchtet eine essentielle Verbindung: Neues Testament nicht ohne das Alte, ehrwürdige, welches schließlich der „Boden für Jesu Predigten und Geschehen des neuen Bundes“ ist (43). Nachdem Cordes an vielen Eindeutigkeiten ausführt, dass es sich nicht lediglich um „Sagen längst vergangener Zeit“ (58) handelt, zeigt er mehrfach, wie konkret eine „Geschichte Gottes mit einer Seele“ (96) aussehen kann:
Er führt den Leser durch verschiedene Zeitalter der Geschichte anhand der Biografien bemerkenswerter Persönlichkeiten. Dabei demonstriert er, wie ein intimes Verhältnis mit Gott, der die Herzen berührt und wandelt, aussehen kann. Als Beispiele dafür, wie persönlich der Gott des Christentums tatsächlich ist, dienen Einblicke in die tiefe Spiritualität von Teresa von Avilà (96), John Henry Newman (132) und Charles de Foucauld (179). Diese haben gemeinsam, dass sich ihre eigene, zentrierte „Ich-Bezogenheit“ auflöst, hin zur Liebe nach Jesus. Die Selbstvergessenheit, welche heutzutage häufig diskreditiert wird (229), legt der Autor einleuchtend als Ziel offen. Dabei geht es jedoch nicht um die „Auslöschung des Ichs“, sondern darum, dass Gott uns „aus der Ich-Verkrümmung befreien“ will (234). Wie ein roter Faden zieht sich durch das gesamte Buch der Schlüssel, diesem Gott zu begegnen, indem man sich als „Ich“ auf dieses persönliche „Du“ (Gott) einlässt, und sich von ihm entzünden lässt (228). Der jüdischer Religionsphilosoph Martin Buber entbietet hier seinen Gruß zwischen den Zeilen.Trotz der bestechenden Logik seiner Argumentation lässt Cordes genügend Raum für die Realität, den Alltag. In Beispielen von Personen, die diese persönliche „Du-Ich-Beziehung“ nicht erreicht haben, illustriert er das Gefängnis der Selbstfixierung. So zeigt er an Johann Wolfgang von Goethe (157), einer Galionsfigur großer Denker, wie eine selbstverliebte, ausgeprägte Ich-Bezogenheit zur Ablehnung eines persönlichen Gottes führen kann. Diese Ich-Bezogenheit wird in anderer Form ebenfalls am Beispiel Martin Luthers (117) erklärt, bei dem persönliche Isolierung zu einem ganz anderen Resultat führte, als bei der heiligen Teresa, Newman oder Foucauld. Reform beginnt immer im Herzen des Menschen, damit das Reich Gottes in uns sein kann. Wer das eigene Ich als einzigartigen „Garant oder Herrn von Gottes Heilswort“ erheben will (123), überhebt sich.
Betrachtet man wiederum das Christentum lediglich durch eine Brille trockener Faktenanalyse, allein durch Einsetzung des Verstandes, ohne die persönliche Ich-Du-Beziehung als Berührung des Herzens, so erreicht man womöglich ebenfalls eine ablehnende Position, ganz nach dem Philosophiehistoriker Kurt Flasch (172). Dass der Verstand jedoch ebenfalls relevant ist, zeigt Cordes an der vorher erwähnten Biografie des brillanten Newman, welcher sich nach intensiver Studie der Kirchenväter genötigt sah, sich von der irrenden Lehre des Anglikanismus abzuwenden und folglich zur römisch-katholischen Kirche konvertierte. Fides et ratio.
Eine pastorale Antwort gibt der Autor gegen Ende seines Buches, indem er verschiedene geistliche Bewegungen anhand ihrer Stifter als Träger der Neuevangelisierung anführt. In ihnen entdeckt Cordes einen zusätzlichen „Beleg dafür, dass der „ferne Gott“ Kirche und Menschheit nicht verlassen hat.“ (250). Erwähnenswert ist zudem die Tatsache, dass Cordes ein in sich abwechslungsreicher, kohärenter Schreibstil gelungen ist: Einerseits beweist er mit außerordentlichem Tiefgang seine theologischen Fähigkeiten, bspw. durch eine faszinierende Exegese des Alten Testaments, die den Verstand herausfordert. Die Biografien der Heiligen erzählt er wiederum auf eine solch fesselnde Weise, wie man es von gediegenen Romanen erwarten würde. Die Beschreibung von Luthers Persönlichkeit wirkt auf den Leser fast wie die Analyse eines Psychologen und bei Goethe beweist der Autor sogar Geschick für Gedichtsinterpretation.
Die vorliegende Lektüre ist primär ein wichtiger Appell an all jene, die in einem Christentum der Selbstverständlichkeit groß geworden sind, einem Christentum, das schnell zur Selbstvergessenheit verleitet. Gott ist real, er ist Person, und jeder Mensch kann sein Angesicht suchen. Zudem ist Cordes Buch für jeden Christen lohnenswert, der sich durch den scharfsinnigen Kardinal inspirieren lassen möchte.
Daniele Carlino
Cordes, Paul Josef: Dein Angesicht Gott suche ich. Media Maria Verlag, Illertissen 2017, 284 Seiten, € 19,95 ISBN: 978-3945401361

