Er sagt’s in vollem Glauben
Wenn Amos Oz die Rolle des großen Romanciers des modernen Israels zukam, so war Jehuda Amichai die große lyrische Stimme des Gelobten Landes, das man „nach Touristenführern und Gebetbüchern“ (66) einfach nur lieben kann. Amichai wurde 1924 in Würzburg als Ludwig Pfeuffer geboren. Streng jüdisch-orthodox erzogen, wanderte die Familie bereits 1935 aus, um dem Nazi-Regime lebend zu entkommen. Sein anschließendes Leben verbrachte er in Jerusalem, mit einigen wenigen Unterbrechungen, um etwa in Berkeley oder New York Gastprofessuren für Poetik wahrzunehmen.

Im Zweiten Weltkrieg kämpfte Amichai in der Jüdischen Brigade der britischen Streitkräfte. Diesen Kampf setzte er im Israelischen Unabhängigkeitskrieg fort. Seine Kriegserlebnisse hinterließen bei Amichai tiefgreifende Spuren. So einiges habe er „in den Kriegen gelernt“: Neben dem stumpfen Marschieren und Kommandieren-Lassen war das vor allem „die Kunst der Tarnung“ (78). Seine Tarnkappe ist die Besinnung auf einen Glauben, der all der aufgeklärten Zivilisation „verschlossen“ bleibt, aber mit all seiner Widersprüchlichkeit und seinem Gebetseifer eben das Leben in Bewegung hält.
Amichai schrieb nicht in seiner Muttersprache, sondern seine Vatersprache, die Sprache der Väter, der Erzväter und der vielen Glieder, die bis zu seiner Generation reichten, wurde ihm zur Heimat, die es zu verteidigen galt, trotz all der „Verwicklungen in diesem kleinen Land“ (65). Während Amichai in Israel längst als Klassiker avanciert, ist er hierzulande kaum bekannt. Ariel Hirschfeld hat zum 20. Todestag nun einige Gedichte gesammelt, die in einer übersichtlichen Anthologie vorliegen. Dafür wurde auf bereits vorliegende Übersetzungen zurückgegriffen, größtenteils aber übertrug Anne Birkenhauer mit einer beachtenswerten Einfühlungsgabe die hebräischen Verse. Fünf Gedichte stehen zweisprachig nebeneinander (144-153).
Für Amichai besitzt das Diktum Adornos keinerlei Geltung, dass „nach Auschwitz“ kein Gedicht mehr möglich sei. Aus einem einfachen Grund: Er war Jude, schrieb nicht in der Sprache der Täter und entkam dem Naziterror früh genug, um von der Bestialität der Unmenschlichkeit tödlich verwundet zu sein. Seine Lyrik hat es in sich, denn „(n)ach Auschwitz gibt es eine neue Theologie: / Die Juden, die in der Schoah umkamen, / ähneln ihrem Gott immer mehr: (…) ohne Körper und ohne Gestalt“ (112). Amichai hatte die seltene Gabe, das Alte mit dem Neuen zu verbinden. Er kombinierte jüdische Traditionen mit vielstimmigen existentiellen Lebenserfahrungen. Dabei verwendete er, wie er seine Dichtung selbstbescheiden sagen lässt, „nur einen Bruchteil / der Wörter im Wörterbuch“ (17).
Diese Dichtung müsste deshalb entdeckt werden, weil sie nichts anderes als ins Wort gefasste Erwählungstheologie ist. „Der wirklich Liebenden“, so lässt uns Amichai wissen, erbarmt sich Gott, um dem gleich ein „vielleicht“ hinterherzuschicken. Gewiss sei aber: „Gott erbarmt sich der Kindergartenkinder“ (145), denn die könnten noch staunen und blieben selbst im Schweiße des Angesichts von den Sorgen des Lebens verschont. Amichai schlägt zarte, meisterliche Töne an, die an Überraschungen und Schönheiten reich sind, ja, überreich. Wer sich auf diese Lyrik einlässt, wird eine Sprache voller Sehnsucht aufstöbern können, die nach einer möglichst berauschenden Liebe greifen möchte. In diese Suchbewegungen nimmt diese Anthologie mit hinein.
Nach so manchem Gedicht finden sich kurze Anmerkungen, die zu einem besseren Textverständnis helfen. Meist wird dabei der Bezug auf die Tora oder rabbinischen Weisheiten klar. Mit diesem Band lässt sich ein brillanter Beobachter, ein hellwacher Intellektueller und ein streitbarer Schriftsteller entdecken.
Alexander Ertl
Amichai, Jehuda: Offen. Verschlossen. Offen. Gedichte, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2020, 160 Seiten, € 25,- ISBN: 978-3-633-54297-0

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